Tutto in ordine?

Der Fortbestand der Sondergesetze aus den Siebzigern zeigt: Italiens "Zweite Republik" ist die Erste

Alles hat wieder seine Ordnung. Hat alles wieder seine Ordnung? Die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Adriano Sofri, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani ist abgelehnt worden, und auch Toni Negri bleibt auf der Grundlage eines ähnlichen Urteils - unter anderem wegen "ideologischer Teilnahme an einer Entführung" - weiterhin im Gefängnis. Die Liste der Unterzeichner verschiedener Aufrufe zur Beendigung dessen, was die Medien als die "bleiernen Jahre" in Italien bezeichnen - und was mit mehr Berechtigung als Jahre der Staatsmassaker, dann als Jahre des Notstands charakterisiert werden kann - wird lang und länger. Auswirkungen auf die italienische Justiz oder Exekutive waren bislang nicht zu erkennen.

Bereits im Dezember hatte die französische Zeitung Le Monde eine Liste mit mehr als 1 000 Promi-Unterschriften aus aller Welt zur Unterstützung des Appells "Freiheit für Toni Negri - Die bleiernen Jahre in Italien beenden" veröffentlicht. Der Appell wurde auch dem Europäischen Parlament in Strasbourg überreicht.

Mittlerweile ist die Initiative auch in Deutschland angelaufen. In ihrer Ausgabe vom 5. März veröffentlichte die Zeit eine von Peter Sloterdijk aktualisierte Fassung des Textes mit einer Unterstützerliste, die von B wie Ulrich Beck bis W wie Martin Walser reicht.

Peter Sloterdijk hielt offensichtlich eine Entschärfung des französischen Textes für angebracht. Beispielsweise fehlt in der deutschen Fassung jeder Hinweis auf die "Strategie der Spannung" des italienischen Staates, ohne die die Härte der Auseinandersetzungen im Italien der siebziger Jahre nicht zu verstehen ist. Mittlerweile gehen italienische Historiker wie Nicola Tranfaglia davon aus, daß diese Strategie von der Regierung in Rom unter Beteiligung diverser italienischer Geheimdienste, faschistischer Gruppen und geheimer internationaler Allianzen gegen die Bewegungen in der Folge des Mai 1968 eingesetzt wurde. Sie beinhaltete Bombenanschläge wie auf der Piazza Fontana am 12. Dezember 1969.

Jedenfalls treten die Unterzeichner für eine Amnestie des italienischen Staates für die rund 180 Gefangenen ein, die in Italien immer noch auf der Basis von Vorwürfen und großteils der Sondergesetze aus dieser Zeit inhaftiert sind, sowie für die rund 150 Exilierten, die in der Mehrheit in Frankreich leben. Die möglichst umgehende Freilassung von Negri und Sofri wäre laut Aufruf ein erstes Zeichen, daß "die zuständigen Instanzen Italiens willens sind, einem fragwürdigen, ja unerträglichen Zustand ein Ende zu machen". Das Ende des Textes: "Indem Italien zugleich eine Reihe von längst dysfunktional gewordenen (diese Bestimmung fehlt in der französischen Fassung; Red.) Ausnahmegesetzen abschafft, die mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar sind, wird dieses unentbehrliche Land Europas, wie wir glauben, seine Verankerung im neuen europäischen Prozeß bekräftigen."

Die gesetzlichen Neuerungen aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre markierten den Übergang zum Notstandsstaat. So bezeichnet ihn zumindest Oreste Scalzone, Ex-Leader der außerparlamentarischen Gruppierung Potere Operaio und seit 1981 im Exil in Paris. Kennzeichnend dafür sei unter anderem, daß die Justiz einer militärischen Logik folge - gegen die sozialen Bewegungen. Was zunächst als Ausnahme konzipiert sei, werde zur Regel, während die Norm aus dem gleichen Grund zur Ausnahme werde. Die andauernde Geltung der in den sogenannten bleiernen Jahren eingeführten Gesetze macht diese Überlegungen plausibel.

Das Kronzeugengesetz beispielsweise, so kritisiert die französische Fassung des Appells zugunsten von Negri, mache die Aussagen von Kronzeugen zur ausreichenden Grundlage für die Verurteilung dadurch belasteter Personen; dem Staat gestatte es, bereits Verurteilte - im Gegenzug zur Denunziation - in die Freiheit oder in diverse "Resozialisierungsmaßnahmen" zu entlassen. Nach einem anderen Sondergesetz kann die Untersuchungshaft nachträglich auf bis zu zwölf Jahre ausgedehnt werden - womit auf bequeme Weise die Anklage mit einer De-facto-Verurteilung zu zwölf Jahren Gefängnis zusammenfallen kann. Für den "Besitz subversiver Dokumente" wurde eine Strafandrohung von bis zu vier Jahren Haft in Anschlag gebracht.

Für die Abschaffung der Ausnahmegesetze gibt es in Italien bislang allerdings ebensowenig Anzeichen wie in Deutschland. Nicht nur die Entscheidung des Gerichts gegen den Revisionsantrag von Bompressi, Pietrostefani und Sofri spricht dagegen. Am 17. Januar hat die italienische Justiz es auch abgelehnt, Toni Negri einen ersten 24stündigen Haftuerlaub zu bewilligen - wegen Fluchtgefahr -, trotz der Tatsache, daß er im vergangenes Jahr freiwillig aus seinem französischen Exil nach Italien zurückgekehrt war. In einem weiteren Aufruf, den die Philosophen Gabriel Albiac, El Albert, Michael Hardt und Yoshihiko Ichida sowie der Schriftsteller Yann Moulier Boutang unterzeichnet haben, heißt es: "Parallel dazu behauptet die italienische Polizei, er (Negri) habe in Frankreich eine terroristische Aktivität fortgeführt. Und um diesen Beschuldigungen einen Schein von Glaubwürdigkeit zu verleihen, bringt sie Auslieferungsersuchen hinsichtlich der italienischen Flüchtlinge wieder ins Spiel, die positiv zu bescheiden die französische Justiz sich schon geweigert hat. Anfang Februar hat das Strafvollzugstribunal von Rom eine Entscheidung getroffen, die die Weigerung bekräftigt, ihm irgendeinen Hafturlaub zu gewähren."

Warum aber werden Negri Hafterleichterungen verweigert, die sozialen Gefangenen regelmäßig zustehen? Warum wird das Urteil gegen Bompressi, Pietrostefani und Sofri nicht aufgehoben? Warum wird kein Amnestiegesetz erlassen? Warum werden die Ausnahmegesetze nicht abgeschafft? Obwohl der Kalte Krieg beendet und die antagonistische Bewegung zerschlagen ist?

Die Situation läßt nur eine Schlußfolgerung zu: Die Macht der Strukturen, Institutionen und Personen, die ein entgegengesetztes Interesse verfolgen, ist ungebrochen - trotz der Entmachtung eines Teils der politischen Klasse Anfang der neunziger Jahre durch die Mani Pulite-Verfahren und des allseits so bewunderten Übergangs zur sogenannten Zweiten Republik. Die Verfahren gegen Sofri, Negri und all die anderen, die Namenlosen, sind ein genauer Gradmesser für die Macht dieser Strukturen. Deren Interesse an der weiteren Aufrechterhaltung dieser Art von Notstandsstaat kann verschiedene Ursachen haben: Ihre direkte oder indirekte Verwicklung in die Politik der Bomben, die Italien als Laboratorium der Konterrevolution so interessant macht; die Tatsache, daß sie weiter das Projekt eines autoritären Staates verfolgen, das ihnen als angemessene Form der Krisenverwaltung erscheint. Oder die Unterstützung der Notstandsgesetzgebung im Jahr der Revolte 1977, die für die damalige Kommunistische Partei die Bedingung für ihre "Kooptation in den 'demokratischen Kreis' oder die Regierung war", wie es der ehemalige Operaist Sergio Bologna ausdrückte.