31. Der rote Faden

Fortgestzte Erzählungen

In Gedanken trug Ida Schwarz. Der Tag war schön, die Blumen blühten im Garten und in den Hecken zwitscherten die Piepmätze, aber sie haßte das Wetter.

Irgendwann klingelte das Telefon, und sie sagte langsam und leise wie immer, wenn sie deprimiert war:

"Klebe."

Eine brüchige Männerstimme antwortete:

"Modjewski."

Und dann, nach einer Pause:

"Bist du's, Ida? Ich bin's, Modder."

Nach einer weiteren Pause:

"Wir haben zusammen im Panzer gesessen, erinnerst du dich? Die alte Mannschaft, Icke, Höhni, Hüppi, Adelheid, die dicke Inge und wie sie alle hießen."

Ida bleibt stumm, aber innerlich jubiliert sie. Sie erinnert sich an keinen Modder, keinen Panzer, sie weiß nur, einer wird kommen, dem ich alles zeigen kann. Die Regale voller Leitzordner, Ablagemappen und Zeitungsstapel ihres ermordeten Mannes, seine Tagebücher und Fotoalben. Pfarrer Debius hat sie nicht belogen, als er sagte:

"Frau Klebe, ich schicke Ihnen jemand, dem Sie alles erzählen müssen, über Ihren Gatten und so weiter. Seien sie unbesorgt, der Mann ist zuverlässig wie eine Brieftaube."

Eine unheimliche Erregung senkt sich vom Kopf in die Füße. Einer wird kommen, und sie wird ihm alles erzählen. Den roten Faden ihres Lebens. Der Tag des Gerichts ist da. Aus ihren Gräbern wird man sie reißen, die Mörder und Mittäter, ihre angefressenen Knochen zu Staub zermahlen und in alle Winde verstreuen, und die paar, die noch leben, Habermas, Hippe, die hundertjährige Gräfin, werden heulen und mit den Zähnen klappern. Diese Ratten.

Sie geht durchs Haus wie eine Schlafwandlerin, durch die Waschküche, wo früher die Milchkannen standen, in den Keller, ins Wohnzimmer, über die engen, knorzenden Stiegen bis in die Dachkammer, wo im Winter die Wäsche aufgehängt wurde und das Bettgestell stand, wo Matthis, der Pole, schlief und sich Klebes Archiv befindet.

Im Keller begegnet sie ihrer Mutter. Anna ist splitternackt. Sie will die Kartoffeln entkeimen und kann nicht. Sie hat die Hände voll. In der linken hält sie ein Hitlerbild, die rechte Hand deutet zwischen ihre Schenkel. Sie hat ihre Tage. Aus ihrer Scheide hängt ein rotes Fädchen.

Es ist so still, daß Ida hören kann, wie die langen, weißlichen Keime sich aus den Kartoffeln winden und an der Wand entlang zur winzigen Kellerluke hinaufkriechen.

In der Ecke steht Idas Kontrabaß mit weit aufgerissenem Maul. Er trägt eine schwarze Uniform. Er ist der SS-Mann, mit dem Anna sie gezeugt hat, und Ida weiß jetzt, der Sattlermeister, der seinen Bäumen und Büschen die bizarrsten Formen zu schneiden wußte, ist nicht ihr Vater. Ihr leiblicher Vater ist ein Kontrabaß, der eine SS-Uniform trägt und auf den Feldern des Ritterguts die polnischen Saisonarbeiter antreibt.

In der Dachkammer wirft sich Ida auf das alte Bettgestell und schließt die Augen. Die Tür wird geöffnet und ein großer schlanker Mann tritt ein. Er trägt eine elegante amerikanische Uniform. Es ist Colonel Ed Sommer. Sie wehrt sich. "Du albernes Ding", sagt er zu ihr. "Da ist ein Schiff, das bald nach New York fährt. Wie soll ich dir glauben, daß du mich liebst?"

Seine Hände sind überall. Sie weint und zittert. Er haut ihr eine runter und nimmt sie in den Arm und streichelt ihren Rücken. "Nicht so laut, wenn uns jemand hört." Mit Tränen im Gesicht zieht sie Rock und Bluse aus, streift die Unterhose ab und küßt sein Gesicht. "Du mußt versprechen, daß du mich mitnimmst."

Tags drauf sitzt Ida in der Küche. Vielleicht ist sie schwanger. Sie liest nach bei Knaus-Ogino, woran man das merkt. Mutter Anna humpelt herein und reibt sich das Schienbein. Zu spät schiebt Ida ein Schulhheft über die Broschüre. Hoch auf reckt sich die alte Führerin.

"Halt's Maul, du Flittchen! Ich weiß alles über dich und den Ami. Wenn du wenigstens den Mut hättest, ihn anzuzeigen. So einer gehört hinter Schloß und Riegel. Die Eier sollte man ihm abschneiden. In' Arsch treten, daß er bis nach Amerika fliegt. Meinst du, ich weiß nicht, daß er dich vergewaltigt hat? Weißt du, was wir früher mit so einem gemacht hätten?"

Ida stammelt: "Das ist nicht wahr, Mamma, ich liebe ihn."

Eine Ohrfeige wirft sie gegen die Wand und ein neuer Wortschwall hindert sie am Weiterreden. Sie ist plötzlich in einer riesigen Wohnung mit riesigen Zimmern. In einem Zimmer sitzen glückliche Mütter im Kreis und halten Kleinkinder im Arm. Nebenan liegen Säuglinge in ihren Bettchen. Im nächsten Raum spielen Kinder, dann kommt ein Schulzimmer. Aus einer Clotür schaut ein Mann mit heruntergelassenen Hosen. Er winkt ihr, deutet auf seinen nackten Hintern und verschwindet wieder hinter der Clotür. Es ist Quasimodo, der Kutscher des Grafen.

Je weiter sie kommt, desto älter und hinfälliger werden die Menschen. Die Wohnung enthält ihr ganzes Leben. Im Gang vor den letzten Zimmern laufen Krankenschwestern eilig hin und her. Eine alte Frau liegt im Sterben. Es ist Idas Mutter, Anna. Ein Pfleger hebt die Sterbende vom Bett und trägt sie an Ida vorbei. Die Alte hebt den Finger und deutet auf ein Heiligenbild über der Tür. Es ist Jesus mit einem Lamm auf der Schulter. Dahinter eine Herde Schafe.

Im Schafstall hängt ein Junge an der Wand. Es ist Adelheid. Ein großer Eisenhaken hat sich in seinen Unterleib gebohrt. Er hängt mit dem Kopf nach unten. An seinem Unterleib klafft eine Wunde. Blut rinnt.

Neben der Tür hängt ein Spiegel. Ida schaut hinein. Sie sieht ein verwüstetes Gesicht voller Falten und vernarbter Furunkel. Schwere Tränensäcke verunstalten die Augenpartie. Ida erschrickt vor der Häßlichkeit dieser Frau und kehrt rasch zurück in jenen Bereich, wo die Vierzig- bis Fünfzigjährigen wohnen, und betritt einen Wohnraum.

Auf dem Eßtisch steht ein Haus. Es ist ihr Haus. Das Haus ihrer Eltern, in dem sie wohnt mit ihrem Mann, dem Kontrabaß und den drei kastrierten Katzen. Das Haus, das ihre Mutter günstig gekauft hat von der Familie Nußbaum, die 1938 nach dem Brand der Synagoge die Stadt verlassen mußte. Es ist ein bescheidenes Haus, wie alle Handwerker in Hofacker es hatten, wenn sie nebenher eine kleine Landwirtschaft betreiben wollten.

Durch die Fenster kann man in die Zimmerchen gucken. Sie sind möbliert und sehen aus wie früher, bevor Max Klebe alles umkrempeln mußte. Immer mußte er alles umkrempeln. Stur wie ein Bock hielt er fest an den alten Mauern, Bräuchen und Freunden, aber ständig war er am Renovieren.

Im Wohnzimmer sieht sie ihn sitzen. Er liest und hört ihr kaum zu. Sie beschimpft ihn. "Wie kannst du nur leben in diesem Haus?" sagt sie. "Daß du überhaupt leben kannst, in dieser Stadt voller Aasfresser. Merkst du denn nicht, wie es stinkt, in diesem Nest?"

Er hebt kaum den Kopf. "Wo willst du hin?" - "Wir könnten nach Israel ziehen." - "Was willst du da", fragt er leise. "Da gibt's nichts wie Steine." - "Wir sind umringt von Nazis und Türken." - "Die gibt's da auch."

Sie schaut ihn feindselig an und schlurft in die Küche. Am Küchentisch sitzt die dicke Inge und kichert. Sie ist etwa sechzehn Jahre alt und hat lange Zöpfe. Draußen wallt der Nebel, und Idas Stimmung bessert sich augenblickllich. Nun holt auch Ida ihren Ranzen herbei und beginnt, Schulaufgaben zu machen, bis das Telefon klingelt.

"Modjewski, Modjewski."

"Ach Sie sind's", sagt Ida mit frischer Stimme.

"Wer war's?" fragt die dicke Inge, als Ida in die Küche zurückkommt. Inge ist jetzt Mitte sechzig und mit einem Sargtischler namens Höhnemann verheiratet. Ida lächelt versonnen. Ihre Depression ist wie verflogen. Es ist November.

"Na", sagt Inge, "neues Glück?"

"Erinnerst du dich an den kleinen Modder?" fragt Ida.

"Ist das nicht der, der sich immer nicht getraut hat?" fragt Frau Höhnemann und kichert schon wieder. "Aber ein bißchen schizophren bist du schon, glaube ich."

Dann geht auch dieser Tag vorüber.

Nächste Woche: "Abstecher nach Tucson"