Nur eine Frage der Taktik

Wie sozial sind die Neonazis? Ein Interview mit dem Gewerkschafter Angelo Lucifero

Die NPD mobilisiert zum "Tag der Arbeit" nach Leipzig, die DVU verspricht in Sachsen-Anhalt "Arbeitsplätze nur für Deutsche". Wird die sogenannte soziale Frage nun zum Hauptthema der Neonazis?

Die intelligenteren Kreise des rechtsradikalen Spektrums versuchen derzeit, den Faschismus zu modernisieren und ihn vom Ruch des Hitlerismus zu befreien. In der NPD hat sich die "Arbeitsgemeinschaft NS" genau dieses Ziel gesetzt. Auch in den Konzepten der "national befreiten Zonen" wird darauf hingearbeitet. Die Strategie zielt darauf, ein größeres Publikum zu erreichen, und ist meiner Ansicht nach eine der gefährlichsten innerhalb des aktuellen Faschismus.

In Thüringen haben die Neonazis beispielsweise bereits mehrmals versucht, sich mit scheinbar antikapitalistischen Parolen in die Arbeitslosenproteste einzumischen. Wenn man ihre Flugblätter liest, könnte man durchaus denken, daß sie von links kommen - abgesehen von der Aussage, das Recht auf Arbeit sei auf die "deutsche Rasse" zu beschränken.

Die Taktik der Neonazis, die soziale Frage für sich zu besetzen, ist jedoch nicht neu, das hat bereits die NSDAP mit großem Geschick vorgemacht. Die SA war Ausdruck genau dieser Haltung, um nationalrevolutionäre Positionen in die Arbeiterbewegung hineinzutragen. Eine andere Variante ist zum Beispiel der italienische Faschismus, wo ehemalige Linke teilweise bis in die Führungspositionen aufstiegen und der dadurch "qualifiziert" wurde, die soziale Frage glaubwürdig zu formulieren.

Auf welche Resonanz stieß die antikapitalistische Rhetorik bei den Arbeitslosenprotesten?

Zunächst sah es nicht so aus, als ob die Agitation der NPD sofort auf große Ablehnung stoßen würden. Der Streitpunkt bestand jedoch lediglich in der Losung "Deutsche Arbeitsplätze nur für Deutsche" - diese Forderung war einfach zu plump.Wir erklären zwar bei jeder Aktion unmißverständlich, daß die Rechten hier nichts zu suchen haben und verteilen Flugblätter mit der Aussage, Arbeit ist teilbar, Solidarität nicht; bei den Kundgebungen geben wir eindeutige antirassistische Erklärungen ab. Allerdings erhalten wir dafür weniger Applaus als andere Redner - man merkt, die Ansichten, Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg, sind auch in den Köpfen der Arbeitslosen präsent. Mit Logik hat das nichts zu tun. In Thüringen liegt der Ausländeranteil bei 0,8 Prozent, Ausländer muß man hier wirklich suchen - trotzdem greift die Propaganda mit den Arbeitsplätzen. Rassistische Einstellungen sind nicht das Privileg von Neonazis, sondern leider im Alltag weit verbreitet. Die Gefahr ist daher ziemlich groß, daß solche Positionen unterschwellig übernommen werden.

Sind die Gewerkschaften und die Arbeitslosenbewegung noch resistent gegen die rechte Agitation?

In den sozialen Bewegungen wie auch in den Gewerkschaften wird zwar eine internationalistische Haltung formuliert, die aber wenig mit der Alltagspraxis und -politik zu tun hat. Den nationalistischen Kräften könnte es gelingen, die Angst vor der Globalisierung für sich nutzbar zu machen. In der Baubranche wendet sich beispielsweise der Haß vieler Beschäftigten weniger gegen die Ursache des Konfliktes - daß andere Menschen noch mehr ausgebeutet werden wie sie selbst -, sondern gegen die Ausgebeuteten, die für Billiglöhne von vier bis acht Mark importiert werden.

Die Gewerkschaft hat vor kurzem eine Kampagne gegen illegale Beschäftigung auf dem Bau gestartet.

Das ist fatal. Die Aktion hat zwar eine andere Intention, sie arbeitet aber dennoch dieser Einstellung zu. Es muß klar sein, daß es um die Solidarität mit ausländischen Beschäftigten geht, daß sie zu gleichen Rechten und Tarifen hier beschäftigt werden. Und es müssen sich deutliche Aussagen gegen diejenigen richten, die versuchen, Menschen der ersten und zweiten Klasse in der Arbeitswelt zu manifestieren. Das kommt in der Kampagne sehr wenig rüber.

Es gibt ein Beispiel, wie es anders gehen könnte: In Dänemark gelten interessanterweise Deutsche als Billiglohnarbeiter. Die dortigen Bauarbeiter haben die Deutschen vor die Alternative gestellt, sich entweder zu wehren und mit ihnen gemeinsam den Tariflohn einzufordern, oder von der Baustelle zu verschwinden. Die Ablehnung der Billiglohnarbeiter wurde mit dem Angebot verbunden, solidarisch gegen den gemeinsamen Gegner zu kämpfen. In der Bundesrepublik gibt es leider noch keine Ansätze in dieser Richtung.

Wie vertragen sich die antikapitalistischen Losungen mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik?

Die Programmentwürfe von NPD, DVU oder Reps passen gut zu den neoliberalen Konzepten. Es gibt eine klare Trennung zwischen Propaganda und Politik: Auf der einen Seite versuchen sie, die Verlierer, die Langzeitarbeitslosen, für sich zu gewinnen. Gleichzeitig suchen sie die Unterstützung der Kapitalisten. Der einzige Widerspruch in ihrer Programmatik, aber auch der läßt sich lösen, ist die Internationalisierung der Ökonomie. Natürlich ist heute ein funktionierender Kapitalismus in autarken nationalen Wirtschaftsräumen undenkbar. Aber wenn das international handelnde Kapital ein deutsches, ein arisches ist, dann hört das Problem auch schon wieder auf. Auch die Nazis hatten damit keine Probleme.

Wenn die Zustimmung so weit verbreitet ist, wieso schnitten im Osten rechtsradikale Parteien bisher bei Wahlen wesentlich schlechter ab als im Westen?

Gegenüber militant auftretenden Gruppen oder Parteien gibt es noch große Vorbehalte, auch wenn gleichzeitig ein rassistisches Alltagsbewußtsein existiert. Die Aktivisten aus dem Neonazi-Spektrum wirken mit ihrem martialischen Auftreten und Aussehen eher abstoßend. Sie können ihre konkreten Anliegen noch nicht glaubwürdig artikulieren. Sie wollen ja nicht den aufgeputschten Skin ansprechen, sondern die normalen Kleinbürger - was einer bestimmten Ansprache bedarf.

Also nur eine Frage der Rhetorik?

Ja. Und da liegen sie zum Glück noch weit daneben; es gelingt ihnen noch nicht, deren Sprache und Gestus zu treffen. Aber das ist kein inhaltliches Problem, sondern ein taktisches. Spätestens, wenn ihnen in diesem Punkt eine Modernisierung gelingt, werden diese Berührungsängste fallen.

Wie erklären Sie diese unterschwellige Affinität?

Die Normalbürger stehen einem Skin in seiner Geisteshaltung sehr viel näher als einem Punk oder einer linksstehenden Kultur, allein schon deswegen sind sie für die Rechten anfälliger. Diese Einstellung kulminiert in der Strategie der "national befreiten Zonen". Der Vorteil der Rechten ist, daß sie den Bürgern ihr Leben nicht madig machen. Im Gegenteil, sie unterstützen die bürgerliche Lebensweise, während die Linken immer gegen die Spießer sind. Die Nazis sind nicht zufällig eine kleinbürgerliche Bewegung, sie haben die besseren Voraussetzungen, um an das Alltagsbewußtsein anzuknüpfen.

Das hat auch mit der DDR-Geschichte zu tun. Der Faschismus wurde in der DDR, wenn auch aus anderen Gründen als im Westen, nie richtig aufgearbeitet. Man ging direkt zum Antifaschismus über, ohne die Frage zu stellen, welche Verantwortung dieses Volk getragen hat - es gab eben einfach das neue, antifaschistische Volk. Außerdem existiert hier eine lange reaktionäre Orientierung und nur eine sehr schwache linke Tradition. In Thüringen erlangten die Nazis in den dreißiger Jahren zum ersten Mal in einer Landesregierung die Mehrheit. Anders als in vielen westlichen Regionen oder auch in einigen größeren ostdeutschen Städten existiert in der Provinz nur eine marginale linke Widerstandskultur.

In Brandenburg hat Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg ein Solidaritätsbündnis gefordert, das "vom stramm Konservativen bis zum autonomen Spektrum reicht".

Der würde hier vermutlich vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Thüringen ist leider der Marktführer in Sachen rechter Konsens: die massive neonazistische Präsens wird weggeleugnet oder auf Sozialarbeit und polizeilichen Maßnahmen beschränkt. Aber das Problem ist nicht durch härtere Strafen oder mehr Sozialpädagogen zu lösen, sondern nur, indem eine andere politische Stimmung durchgesetzt wird.

Angelo Lucifero ist stellvertretender Landesleiter der Gewerkschaft HBV und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus / Antirassismus Thüringen