Arie Jaffè

»Mit Leidenschaft lebe ich im Kibbuz«

Der Lebensweg von Arie Jaffè ist typisch für die Kibbuz-Gründergeneration: Der gebürtige Berliner mußte 1933 aus Deutschland emigrieren, schloß sich in Wilna der linkszionistischen Partei Haschomer Hatzair an, flüchtete nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion zur Roten Armee und kämpfte mit ihr gegen die Deutschen. 1950 kam er nach Israel und wurde im Kibbuz Yakum zum Experten für Zitrusfrüchte. Jaffè stand jahrelang an der Spitze der linkssozialistischen Mapam-Partei, unter anderem hat er als ihr ständiger Repräsentant in der Sozialistischen Internationale mit Olof Palme, Fran ç ois Mitterrand und Willy Brandt zusammengearbeitet. Jaffè hat die programmatische Arbeit der Mapam-Partei zwei Jahrzehnte geprägt - bis zu ihrer Auflösung im Bürgerrechtsbündnis "Meretz" Anfang der neunziger Jahre. Auch heute noch ist er an der Diskussion des Kibbuzim-Dachverbandes Artzi federführend beteiligt.

Ein Kibbuz ist "Kommunismus im kleinen": Die Produktionsmittel gehören den Produzenten, alle verdienen dasselbe, und alle bestimmen basisdemokratisch über das Was und Wie der Produktion. Das klingt fantastisch, gerade nach den Erfahrungen des realen Sozialismus. Dennoch bröckelt es, ganz ähnlich wie in den achtziger Jahren in Osteuropa. Die jungen Leute stimmen mit den Füßen gegen die Kibbuzim ab und ziehen in die Städte. Ist die Bewegung am Ende?

Die Hälfte der Kibbuz-Kinder kehrt nach den Armee-Jahren nicht mehr in den Kibbuz zurück, aber das gibt es schon seit Ende der siebziger Jahre. Im übrigen ist das eine ganz normale Sache: Wer will schon gerne immer bei seinen Eltern wohnen? Und es gibt auch Kibbuz-Flüchter, die wieder zurückkommen.

Summa summarum haben wir uns viel besser gehalten als die Linke in anderen Ländern: Wir mußten noch keine unserer Siedlungen aufgeben, die Gesamtzahl der ständigen Bewohner liegt mit 130 000 nur 10 000 unter dem Durchschnitt der achtziger Jahre. Diese 2,7 Prozent der israelischen Bevölkerung erwirtschaften 40 Prozent des israelischen Agrarproduktes, zehn Prozent der Tourismuseinnahmen und sieben Prozent der industriellen Erträge. Der Anteil an der gesamten israelischen Wirtschaftsleistung (Bip) beträgt 7,7 Prozent, am Exportprodukt des Landes 8,6 Prozent. Diese Zahlen sind seit Jahren konstant. Das kann sich doch sehen lassen?

Dennoch gibt es Auflösungserscheinungen, oder?

Es gibt zwei große Kibbuz-Dachverbände, und sie reagieren auf ein schwierigeres makroökonomisches Umfeld ziemlich unterschiedlich. Der Takam-Verband, der mehrheitlich der Arbeitspartei nahesteht und insgesamt 172 Kibbuzim umfaßt, hat 1997 beschlossen, keinerlei Bedingungen mehr zu formulieren, die einen Kibbuz definieren - bei ihnen gibt es Tendenzen zur Reprivatisierung des Gemeinschaftseigentums. Ganz anders unser Artzi-Verband mit seinen 86 Kibbuzim: Unser Kongreß im März hat Essentials formuliert, hinter die auch künftig nicht zurückgegangen werden soll. 76 unserer Kibbuzim haben diesen Essentials zugestimmt, nur zwei haben abgelehnt, der Rest will weiter diskutieren.

Können Sie den Inhalt der neuen Grundsatzerklärung beschreiben?

Zum einen haben wir die Entwicklung der letzten Jahre - immer mehr Kibbuznik haben einen immer größeren Anteil ihres Einkommens in Geldform erhalten, während sie in den Anfangsjahren ausschließlich in Gebrauchsgütern und Dienstleistungen abgefunden wurden - akzeptiert. Zum anderen haben wir allerdings, und das ist entscheidend, festgehalten, daß diese Änderung nicht mit einer Aufweichung der (monetären plus nichtmonetären) Einheitsvergütung einhergehen darf - weiterhin hat der Orangenpflücker denselben Vergütungsanspruch wie der Betriebsleiter. Des weiteren haben wir abgelehnt, Wohnungen zum Privateigentum zu erklären und damit vererbbar zu machen - alle Produktionsmittel und Immobilien gehören weiterhin dem Kollektiv. Auch der Grundsatz, daß alle Formen privaten Einkommens an den Kibbuz abgeführt werden müssen, wurde bekräftigt - da immer mehr Kibbuznik außerhalb des Kibbuz in den Städten arbeiten, war dies ein wichtiger Punkt. Schließlich werden wir auch in Zukunft basisdemokratisch über alle wirtschaftlichen und politischen Fragen entscheiden - wenn auch dem jeweiligen Kibbuz überlassen bleibt, wie oft die Vollversammlung tagt und wie stark sie durch Abstimmungen an der Urne ergänzt wird.

Welche Auswirkungen hatte der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten auf die Kibbuzim?

Der erste Kibbuz wurde 1909 gegründet, in den zwanziger Jahren folgte ein regelrechter Boom, nach der Staatsgründung 1948 noch einmal - das war eine Zeit, in der Sozialismus in der Luft lag. Heute geht der Zeitgeist in eine andere Richtung, Eigennutz und Profit ist den meisten das oberste Prinzip. Da der Kibbuz nicht abgeschlossen, sondern in Osmose mit der Gesellschaft lebt, ist dieses Denken auch zu uns gekommen. Doch der Kibbuz ist nicht nur Ideologie, sondern auch eine bequeme Lebensform: Schauen Sie mich an, ich lebe leidenschaftlich gerne im Kibbuz, es macht mir Spaß. Der ganze Streß, das Konkurrenz-Gerangel der kapitalistischen Wirtschaft, fällt weg, man muß nicht dem Geld hinterherjagen, sondern kann sich auf seine persönliche Entwicklung konzentrieren. Ich zum Beispiel habe jetzt, als steinalter Mann, nochmal mit dem Studium der Geschichte begonnen!

Also: Viele, die mit der Kibbuznik-Theorie ihre Schwierigkeit bekommen haben, sind dennoch weiter von der Kibbuznik-Praxis überzeugt. Das trägt zur Stabilität unseres Experiments bei.

Der Grund unserer Krise liegt also weniger in ideologischer Verunsicherung. Ausschlaggebend war vielmehr die Änderung der ökonomischen Großwetterlage: Durch die Hochzinspolitik der Likud-Regierung in den achtziger Jahren sind die Kibbuzim, die von den früheren linken Regierungen großzügig Kredite erhalten hatten, in eine Schuldenfalle gelaufen. Das hat unsere Spielräume eingeengt: Während wir früher genug Mittel hatten, um die modernsten Maschinen anzuschaffen, müssen wir heute Produktionsengpässe ohne teure Neuinvestitionen überwinden. Am einfachsten ist das, indem wir temporär Lohnarbeit von außen beschäftigen - etwas, was eigentlich unseren Prinzipien widerspricht.

Wie geht es weiter?

Das wichtigste ist die absehbare Fusion der Dachverbände: Takam und Artzi und der kleine Verband der religiösen Kibbuzim werden bald ihre bisherige institutionelle Trennung überwinden. Hauptgrund ist, daß die frühere parteipolitische Orientierung sich gelockert hat: Viele Takam-Genossen wählen aus Unzufriedenheit mit der zögerlichen Friedenspolitik der Arbeitspartei heute Meretz, während spiegelverkehrt einem Teil der Artzi-Chaverim die Politik der Meretz in dieser Frage zu weit geht.