Jenseits von Gut und Böse

Die ehemalige Internationalismus-Bewegung kümmert sich heute vornehmlich um Politikberatung und sorgt sich um den Nationalstaat.

Wenn alte Kämpen der internationalistischen Dritte-Welt-Solidarität beim Bier zusammensitzen, dauert es meist nicht lange, bis das Thema auf glorreichere Zeiten kommt. "Damals, beim Weltwirtschaftsgipfel 1985 in Bonn, haben wir 25 000 Leute auf die Straße gebracht. Und bei der Kampagne gegen den IWF- und Weltbank-Gipfel 1988 in Berlin waren es noch mehr." Die Sehnsucht nach der verlorengegangenen Massenbasis weicht in den letzten Wochen jedoch nicht selten der Überraschung darüber, daß die gegenwärtigen Aktionen und Kongresse gegen das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI) sowie gegen den G 8-Gipfel und das WTO-Treffen weit mehr Protestler mobilisieren, als man das Ende der neunziger Jahre noch erwartet.

Doch das kurzfristige Aufflackern des Widerstandes gegen das MAI darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die internationalistische Linke seit Anfang der neunziger Jahre in einer tiefen Krise steckt. Die Gründe sind schnell aufgezählt. Zum einen haben die Umbrüche nach 1989 das internationalistische Selbstverständnis gründlich durcheinandergewirbelt, um nicht zu sagen der Orientierungslosigkeit anheimgegeben. Wichtige Stationen dabei waren die Wahl einer konservativen Regierung im revolutionären Nicaragua 1990 und die Antisemitismus-Diskussion in der Nachfolge des zweiten Golfkrieges von 1991. Vormals weitverbreitete Argumentationsfiguren nach dem Muster "hier die bösen Imperialisten, dort die guten Befreiungsbewegungen" wurden unter dem Eindruck der Ereignisse endgültig aufgegeben und werden heute, mit Ausnahme von einigen wenigen Bemitleidenswerten, kaum noch vertreten. Doch der längst überfällige Abschied von platten Parolen und Revolutionsromantik ließ an ihre Stelle kein neues überzeugendes politisches Projekt treten. Die verbliebene internationalistische Linke hat sich daher konsequenterweise weitgehend auf Abwehrkämpfe (insbesondere Antirassismus) und Flüchtlingsunterstützung zurückgezogen.

Zum anderen hat das schon seit jeher bestehende reformistische Lager der Dritte-Welt-Solidarität seit Anfang der neunziger Jahre die nahezu unangefochtene politische Hegemonie inne. Die verbalradikalen Parolen der Autonomen und Antiimps anläßlich des IWF-Gipfels von 1988 ("Eine Mordmaschine läßt sich nur bekämpfen") waren nur das letzte Aufgebot in der Auseinandersetzung zwischen den "Revolutionären" und den von ihnen verachteten "Reformisten", die die achtziger Jahre wesentlich geprägt hatte.

Spätestens nach dem UN-Umweltgipfel 1992 in Rio haben sich im gesamten Bereich der Dritte-Welt-Arbeit von Verschuldungskrise bis zur Regenwaldzerstörung die sogenannten Lobby-Organisationen etabliert. Nach dem Vorbild des US-amerikanischen Lobbyismus und insbesondere der hochprofessionalisierten, mediengerechten Kampagnen von Greenpeace entstanden auch in der BRD Gruppen wie Germanwatch, WEED (Weltwirtschaft, Umwelt und Entwicklung) oder Urgewald. Bei allen durchaus vorhandenen politischen Unterschieden betreiben die meisten Lobby-Organisationen heute nahezu ausschließlich pragmatisch orientierte Politikberatung. Über Face-to-face-Kontakte zu "Entscheidungsträgern" und ausgeprägtem Konferenztourismus will die "neue zivilgesellschaftliche Internationale" der Nichtregierungsorganisationen (NRO) die politischen Steuerungsprozesse im Detail beeinflußen.

Die Arbeit der Lobby-Gruppen basiert weitgehend auf Expertentum. Die mittlerweile von niemandem mehr bestrittene große Kompetenz in Sachfragen korrespondiert jedoch mit einem Verlust an politischer Schärfe. Der Abschied von weitreichenden, radikalen Forderungen und Utopien ist allen Lobbyisten gemein. Kapitalismuskritik wird - wenn überhaupt - nur noch in einer Light-Variante geäußert. Schließlich will man die Adressaten der Lobbyarbeit wie z.B. Parlamentsabgeordnete sowie die Auftraggeber von Expertisen - die von Kircheninstitutionen wie dem Ausschuß für Entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik (ABP) bis hin zum Entwicklungshilfeministerium reichen - nicht verprellen. Diese Selbstbeschränkung wird mit der Krise der Solibewegung begründet, in der die meisten Lobbyisten einst aktiv waren: "Die Lobbygruppen sind nicht mehr der große Entwurf, nicht mehr die Utopie der Gegengesellschaft, sondern die eher bescheidene, realistische Variante des Vorschlags für den Fall, daß der große Gegenentwurf nicht beachtet wird", meint beispielsweise der langjährige Lobbyist Klaus Wardenbach, der derzeit für die Vereinigung Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) tätig ist.

Am Beispiel MAI wird derzeit besonders schmerzlich deutlich, daß antikapitalistische, internationalistische Politikansätze derzeit in der Bundesrepublik kaum verankert sind. Die Lobbyorganisationen beschränken sich weitgehend auf die Information der Öffentlichkeit über den Vertragstext und seine möglichen Implikationen. Wenn überhaupt weitergehende Kritik geäußert wird, beschränkt sich diese wie z.B. bei Weed-Mitarbeiter Peter Wahl auf die Forderung nach "politischer Regulierung", mittels derer "die internationalen Investitionsströme in entwicklungspolitische, soziale und ökologische Bahnen" gelenkt werden sollen. Dazu soll im Rahmen der UN eine "Investitionskonferenz" etabliert werden, in der - wer hätte es gedacht - "auch Gewerkschaften, NRO und andere Vertreter der Zivilgesellschaft partizipieren können".

Kaum besser als solche wachsweichen Wunschkataloge sind viele Ansätze der nichtinstitutionalisierten Protestbewegung gegen das MAI. Eine der InitiatorInnen der Anti-MAI-Aktivitäten, die Ökofeministin und Subsistenztheoretikerin Maria Mies, sorgt sich um die "Selbstentmachtung" der Staaten, weil ihre Souveränität durch das MAI und die Multinationalen Konzerne untergraben werde. Eine schöne Linke ist das, die ausgerechnet von bürgerlichen Nationalstaaten Unterstützung im Kampf gegen die kapitalistische Expansion erwartet. Nicht mal deutschtümelnde, antiamerikanische Ressentiments bleiben von Mies unbedient, wenn sie in klassischem Bewegungs-Alarmismus prognostiziert: "Der US-Multi - etwa McDonalds - wird die bayerischen Kleinbetriebe wegkonkurrieren."

Der erschreckende Mangel an materialistischer Staats- und Kapitalismuskritik kommt auch in den antisemitischen Stereotypen zum Ausdruck, die Teile der Anti-MAI-Aktivisten verbreiten. Da wird beispielsweise ein mehrsprachiges Plakat, das zu einem "heißen Frühling gegen 'Frei'handel und Globalisierung" aufruft, mit einer Karikatur garniert, die ohne weiteres auch in einer Nazi-Postille abgedruckt werden könnte: Ein Finanzmanager mit Hakennase, zusammengewachsenen Augenbrauen, Zigarre und finsterem Blick reitet die Welt in Cowboy-Manier; als Peitsche, Gurt und Sattel dienen ihm MAI, IWF, Nafta oder der G 8-Gipfel. Daß dieses Machwerk nicht in Deutschland, sondern in Amsterdam produziert wurde, macht die Sache nur wenig besser. Angesichts derartiger Bildsprache ist es kein Wunder, daß beim Kölner Anti-MAI-Kongreß Ende April auch einige Anzug-Faschos Einlaß begehrten. Gegen das MAI wird zunehmend nationalrevolutionäre Kapitalismuskritik von rechts laut, etwa beim französischem Front National oder bei den Republikanern. Sich durch Struktur und Qualität der Argumente davon nicht hundertprozentig abgegrenzt zu haben, ist ein schwerwiegendes Versäumnis der Anti-MAI-Kampagne.

Ein Grund für solche Versäumnisse liegt in der mangelnden Verständigung derer, die heute zu Themen wie Weltmarkt und Globalisierung arbeiten. Bei den noch aktiven internationalistischen Linken, sei es beim Wuppertaler Infobüro Nicaragua, beim Zentralamerikakomitee Tübingen (ZAK) oder in den verbliebenen internationalistischen Zeitschriften wie alaska oder ila hat sich mit wenigen Abstrichen ein hohes theoretisches Reflexionsniveau durchgesetzt. Es gelingt den dort meist weit über 30jährigen Aktiven aber nicht, ihre politischen Erfahrungen an Jüngere weiterzugeben. Das hat weniger mit deren mangelndem Interesse zu tun, sondern mit der Selbstabschottung der Älteren und ihrer gelegentlich abgeklärt-arroganten Haltung nach dem Motto "alles schon mal dagewesen".

Das Defizit an politischem Austausch findet seinen deutlichsten Ausdruck in der Agonie des Bundeskongresses entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (Buko). Der Buko als wichtigste unabhängige internationalistische Struktur in der BRD konnte in seiner Hochzeit während der achtziger Jahre bis zu 1 000 Teilnehmer auf seine alljährlichen Kongresse mobilisieren und zahlreiche Kampagnen maßgeblich mitgestalten. Politische und persönliche Querelen führten dazu, daß er seit 1992 als ganzes kaum noch handlungsfähig ist. Erst in jüngster Zeit steigt die Motivation bei den Mitgliedsgruppen, wieder vermehrt in Debatten - wie etwa um das MAI - zu intervenieren und das Feld nicht allein den Lobby-Gruppen zu überlassen. Beim Buko-Ratschlag Anfang Mai wurde nach mehreren "strukturlosen" Jahren ein SprecherInnenrat gewählt, der wenigstens ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit herstellen soll.

Arbeit für den Buko gäbe es genug. Neben der (Re-)Formulierung einer kapitalismuskritischen Dritte-Welt-Solidarität, die weder auf Identitätspolitik noch auf Befreiungsnationalismus aufbaut, stünde z.B. die Klärung der Frage an, ob der Begriff Internationalismus heute überhaupt noch Sinn macht. Denn zum einen wissen viele überhaupt nicht (mehr), was damit gemeint sein soll, zum anderen bezieht er sich auf die Nation als strukturbildendes Muster der Weltordnung. Eine Linke, die diesen Namen auch verdient, kann aber nur eine antinationale sein.

Der Autor ist Mitarbeiter des informationszentrums 3.welt (iz3w) in Freiburg