Ebermann springt zu Kurz

"Fehldiagnose Globalisierung": Nicht der Weltmarkt, sondern die neuen Produktivkräfte sind für die Krise der Industriegesellschaften verantwortlich, konstatiert Daniel Cohen

Wann immer Unternehmer Kostensenkung und Entlassungen das Wort reden, begründen sie diese Maßnahmen mit der Globalisierung. Die Weltmarktkonkurrenz im allgemeinen und die Tigerstaaten im besonderen zwängen uns einen mörderischen Wettbewerb auf, da helfe nur Deregulierung, Lean Production und der Abbau teurer Sozialleistungen, behaupten die Arbeitgeber. Gewerkschaften und Linksparteien weisen diese Lösungen zwar empört zurück, stellen aber die gleiche Diagnose: Die Herstellung eines politisch nicht mehr steuerbaren europäischen bzw. globalen Marktes bedeute einen Wettbewerbsvorteil für die Länder mit den niedrigsten Lohnniveaus.

Auch die Rechtsradikalen profitieren von den so geschaffenen Ängsten: Wenn Asien , Afrika und Südeuropa uns die Arbeitsplätze wegnähmen, sei es doch das beste, sich gegen diese Gefahrenherde abzuschotten und von dort weder Waren noch Immigranten ins Land zu lassen, lautet ihr Patentrezept.

Vor diesem Hintergrund erscheint überfällig, daß einer wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen der Rede von der "Globalisierungsfalle" entgegentritt, ohne gleichzeitig die asozialen Folgen des Neoliberalismus zu leugnen. Cohen sieht, implizit der Methode von Marx folgend, die Ursache der ökonomischen Krise nicht in der Veränderung der Zirkulation - also der Herausbildung eines offenen Weltmarktes -, sondern in der Veränderung der Produktion, also der Durchsetzung neuer Produktivkräfte. Für den Fordismus sei die Riesenfabrik mit unqualifizierten Massenarbeitern unter dem Kommando von White-Collar-Angestellten typisch sei, heutzutage dominiere die "Gruppenbildung nach dem Prinzip größtmöglicher Homogenität".

Cohen veranschaulicht die Imperative der neuen Zeit am Beispiel der Konkurrenten Apple und Microsoft: "Anstatt sich auf die Entwicklung von Anwenderprogrammen zu spezialisieren - worauf sich Apple am besten versteht -, wollte die Firma alles selbst herstellen: Anwenderprogramme, Computer, Drucker usw. Microsoft hingegen überließ Firmen wie Compaq oder Dell die Herstellung der besten Computer, Hewlett-Packard die Produktion der besten Drucker usw. Resultat: Apple ist beinahe bankrott, während Microsoft in puncto Börsenkapitalisierung IBM überholt hat. Microsoft bietet nur dort Angriffsflächen, wo es Experte ist. Apple blieb im Zeitalter des Gemischtwarenunternehmens stecken."

Das Ende der standardisierten Massenproduktion sei auch für die Erschütterungen im politischen und gesellschaftlichen Überbau verantwortlich. Alle Großeinheiten zerfallen in konkurrierende Produktionsinseln: Aus dem einheitlichen Bildungssystem scheren die privaten Eliteschulen aus, der einheitliche Nationalstaat wird vom Separatismus der reicheren Regionen bedroht, der Zwang zur Mobilität zerreißt die familiären Bindungen. Schließlich führt die neue industrielle Revolution auch zu einer neuen internationalen Arbeitsteilung: "Die Computerprogramme werden im Norden entwickelt, die Computer im Süden; Entwurf und Vermarktung von Sportbekleidung erfolgen im Norden, die Produktion von Schuhen in Nordafrika und Asien; die Fernsehserien im Norden, die Fernseher im Süden." Cohen bilanziert: "Die Ungleichheit zwischen den Nationen der 1. und 3. Welt - ein Ergebnis der letzten 200 Jahre - wird geringer, die Ungleichheit innerhalb der Nation wird größer. Im Norden breiten sich Armutsinseln aus, im Süden Wohlstandsinseln."

Die Armutsinseln in den Metropolen entstehen also nicht durch die Lohndrücker auf der Südhalbkugel: Cohen verweist darauf, daß etwa in Frankreich gerade 300 000 Arbeitsplätze durch den Handel mit Billiglohnländern in der Dritten Welt verloren gingen - nur eine kleine Minderheit der insgesamt drei Millionen arbeitslosen Franzosen verdankt ihr Schicksal der Weltmarktkonkurrenz. Auch das Sinken der Lohnquote parallel zum Anstieg der Unternehmergewinne seit Beginn der achtziger Jahre ist kein Ergebnis der Globalisierung: Bei den Exporten der Industrieländer dominieren High-Tech-Branchen mit hohem Lohnniveau, so daß der Lohnanteil an den Exporterlösen nicht abgenommen hat.

Das Problem ist allerdings: In den Genuß dieses Gewinnanteils kommen immer weniger Arbeiter, die pro Kopf immer mehr verdienen. Die Neuverteilung des Wohlstandes, von der im Untertitel des Buches die Rede ist, betrifft also auch in den OECD-Staaten weniger das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit als das Verhältnis innerhalb der arbeitenden Klasse. Was die unqualifizierten Jobber verlieren, gewinnen ihre gut ausgebildeten High-Tech-Kollegen. Vor diesem Hintergrund ist Cohens Ceterum Censeo beizupflichten: "Indem sich die reichen Länder einreden, daß die Gefahr von außen kommt, werden sie blind für die Veränderungen, die sie selbst auf den Weg gebracht haben; indem sie draußen nach Sündenböcken suchen, vergessen sie, sich zu Hause ums Gemeinwohl zu kümmern."

Leider bleibt Cohen nicht bei der Analyse, sondern versucht sich immer wieder in Reform- und Therapievorschlägen. Daß er dabei irgendwo zwischen Gorz und Biedenkopf versackt, wird für manchen Anlaß sein, das Buch schnell wegzulegen. Damit würde man es sich aber zu einfach machen: Trotz aller Schwächen eröffnet Cohen immerhin einen Ausweg für die in Grabenkämpfen erstarrte Ökonomiekritik in der Bundesrepublik.

Jahrelang hatten sich Robert Kurz ("Der Kollaps der Moderne") und das Autorenduo Thomas Ebermann und Reiner Trampert ("Die Offenbarung der Propheten") in konkret gegenseitig Stümper- und Renegatentum vorgeworfen. Die Ex-Grünen stritten mit waghalsiger Zahlenarithmetik den Tatbestand der Globalisierung ab, der Chaos-Theoretiker prognostizierte den Untergang des Abendlandes im vaterlandslosen Fiktivkapital. Cohen bietet eine Synthese: Die Globalisierung ist ein Faktum (da hat Kurz recht), und trotzdem gravitiert das "Globalisierung"-Geraune zum Nationalismus (da haben die Trampermänner recht), denn das Faktum ist eine Folge, nicht der Grund der Umbrüche in der spätkapitalistischen Gesellschaft.

Daniel Cohen: Fehldiagnose Globalisierung. Die Neuverteilung des Wohlstands nach der dritten industriellen Revolution. Campus, Frankfurt a.M./New York 1998, 206 S., DM 36