Birgit Rommelspacher

»Rechtsradikale sind keine Protestwähler«

Alles nur Protest? In Ost-Berlin würden rechtsradikale Parteien von Lehrlingen soviele Stimmen erhalten wie alle übrigen Parteien zusammen. Insgesamt würden rund 20 Prozent der Jugendlichen ihr Kreuzchen bei der NPD oder den Republikanern machen. Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt war dieser Anteil ähnlich hoch. Das geht aus einer Jugendstudie hervor, die das Zentrum für Europäische Bildung in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin diese Woche präsentierte. Die Psychologin Prof. Dr. Birgit Rommelspacher ist Dozentin an der Berliner Fachhochschule für Sozialarbeit "Alice Salomon".

In Ostberlin würden 30 Prozent der Jugendlichen rechtsextreme Parteien wählen. In Sachsen-Anhalt haben sie es schon getan. Sind das alles Protestwähler, Rechtsradikalismus als Rebellion gegen die soziale Verhältnisse?

Mit Rebellion hat das wenig zu tun. Zwar wird vor allem im Osten der Rechtsextremismus als eine Art sozialrevolutionäre und teilweise antikapitalistische Bewegung verstanden - im Westen spielt hingegen der Wohlstandschauvinismus eine stärkere Rolle; der Konformismus ist jedoch in beiden Fällen dominierend. Die organisierten Rechtsextremisten versuchen sich beispielsweise immer als besonders ordentlich und fleißig, d.h. als angepaßt und vorbildlich, darzustellen. Und auch die unorganisierten rechten Jugendgangs, bei denen Gewalt sehr stark im Vordergrund steht, auch sie sehen sich als Vollstrecker des Volkswillens. Das zeigt sich z.B. daran, daß rechte Gewalttäter, wenn sie angeklagt worden sind, in der Regel keinerlei Schuldgefühle zeigen. Sie haben vielmehr das Gefühl, im Sinne der Mehrheit zu handeln und nur das zu tun, was die anderen denken, aber nicht zu tun wagen.

Also sind die rechten Jugendlichen keine "Modernisierungsverlierer", wie in vielen Jugenduntersuchungen behauptet wird?

Das geht an dem eigentlichen Problem, dem nationalistischen und rassistischen Denken, das hier zum Ausdruck kommt, vorbei. Meist wird in der Diskussion der Rechtsextremismus als Symptom für etwas anderes verstanden - als Ausdruck von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit oderProtest. Er wird aber selten als in der Tradition von Nationalismus und Überlegenheitsdenken wahrgenommen, die auch in den Familien, im sozialen Umfeld und in der Politik vorherrscht. Familienuntersuchungen zeigen z.B., daß Jugendliche in keinem Punkt so stark mit den Eltern übereinstimmen wie in Fragen der politischen Einstellung. Beim Lebensstil gibt es dagegen sehr viel eher Unterschiede. Die meisten Jugendstudien hingegen gehen beim Rechtsextremismus von psychosozialen Problemlagen aus. Ich möchte entgegenhalten, daß dies primär ein politisches Phänomen ist, das durch soziale Probleme zwar verschärft werden kann, aber nicht hergestellt wird; sonst müßten alle Arbeitslosen nach rechts tendieren, und das ist keineswegs der Fall. Auch Menschen in beruflich und sozial stabilen Verhältnissen tendieren nach rechts. Denn in erster Linie ist es eine Frage der Mentalitätstraditionen und der politischen Kultur.

Die Studenten- und sozialen Bewegungen im Westen konnten also an diesen Traditionen nichts ändern.

Die 68er haben sich damals als antiautoritäre Bewegung auch gegen die Verdrängung des Nationalsozialismus gerichtet. Allerdings blieb der Protest damals sehr allgemein und wurde m.E. frühzeitig abgebrochen. Es gab auch bei diesen Generationen ein starkes Interesse, die Eltern und Großeltern zu schützen. Man möchte nicht gerne einen Vater als Verbrecher haben. Insofern hatte auch diese Generation ein Interesse am Verdrängen und ging mit den Eltern eine Koalition des Schweigens ein. Ein Beispiel für den Abbruch der Auseinandersetzung ist etwa der Slogan "USA-SA-SS"; die Nazi-Vergangenheit wurde sehr schnell auf die USA und deren Konflikt mit Vietnam übertragen. Auch die psychologische Literatur war zu diesem Thema lange Zeit sehr dünn. Man könnte eigentlich meinen, daß in den Therapien und Psychoanalysen, in denen die ganze Beziehung zu den Eltern en détail aufgeblättert wurde, der Nationalsozialismus eine Rolle gespielt haben müßte. Aber auch die ganze psychotherapeutische Zunft hat verdrängt. Erst jetzt, nach 50 Jahren, erscheinen Bücher, die diese Fragen untersuchen. Die sozialen Bewegungen in den siebziger Jahren haben das Thema zwar angerissen, aber keineswegs das Schweigen - vor allem in den Familien - aufgebrochen.

Wie sind die Unterschiede zwischen Ost und West zu erklären?

Die Auswirkungen der Wiedervereinigung sind für beide Teile sehr unterschiedlich ausgefallen. Der Westen erfuhr eine enorme Bestätigung seiner Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, was einen ungeheuren Dominanzschub auslöste. Dieser stützt sich vor allem auf eine Ideologie des Ökonomismus nach dem Motto: Die Wirtschaft wird alle Probleme lösen - daher auch der Wohlstandschauvinismus. Im Osten hingegen führte die Vereinigung zu einer weitgehenden Entwertung der bisherigen Gesellschaftsordnung. Insofern wird hier mit der forcierten Identifikation mit dem Deutsch-Sein versucht, eine DDR-Tradition in die neue Gesellschaft hinüberzuretten und damit zugleich sich dem Westen gegenüber zu behaupten und Anerkennung zu suchen.

In den neuen Bundesländern liegt der Ausländeranteil unter zwei Prozent. Dennoch wird Rechtsradikalismus häufig als Reaktion auf die Präsenz von Ausländern erklärt.

Den Rechtsextremismus auf die Ausländerfrage zu reduzieren, ist zu einfach. Hauptmerkmal des Rassismus ist eine Überlegenheitsmentalität, die alle Menschen, die nicht in die herrschende Normalität hineinpassen, ausgrenzt; dazu gehören Punks, Linke, Antifas, Behinderte, Schwule, Obdachlose usw. Es geht darum, einen Begriff von Normalität durchzusetzen, der sich nur auf die Leistungsfähigen, Angepaßten und als "deutsch" verstandenen Menschen stützt. Dazu gehört auch die Banalisierung und Leugnung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Neonazis sehen sich selber als Vorkämpfer für ein "besseres", "reines" Deutschland - Ausländer sind da nur ein Feind unter vielen. Auch beim Nationalsozialismus ging es nicht nur um die Ausschaltung anderer "Rassen", sondern immer auch um die "Aufwertung" des eigenen Volkes.

Die DDR definierte sich als antifaschistischer Staat - dennoch haben sich augenscheinlich rassistische Denkstrukturen in der Bevölkerung erhalten.

In DDR gab es nur einen minimalen Anteil von Nicht-Deutschen und eine große Abwehr von seiten der Bevölkerung gegen die Vertragsarbeiter, was die Regierung durch ihre Abschottungspolitik noch unterstützt hat. Und man darf nicht vergessen, daß es auch einen linken Rassismus gibt, in dem die Linke sich als den fortschrittlichsten Teil der Welt und die Menschen aus anderen Ländern und Erdteilen immer als entwicklungsbedürftig versteht. Rassismus ist nicht unbedingt identisch mit Rechtsextremismus, den gibt es auch bei Linken, Liberalen, Ökologen usw. In der DDR war diese rassistische Grundstruktur auch immer vorhanden, trotz des Anspruchs internationaler Solidarität.

Auch das propagierte Gleichheitsdenken war einerseits zwar positiv, hatte aber gleichzeitig einen sehr exklusiven Charakter; jeder, der ein bißchen anders aussah oder abwich, wie z.B. Punks, erfuhr wenig Toleranz, wahrscheinlich noch weniger als im Westen. Konformismus und Kleinbürgerlichkeit hat daher eine große Rolle gespielt - und das Selbstverständnis als ordentlicher Deutscher. Es sind also die Mentalitätstraditionen, die eine große Rolle spielen. Aber auch die aktuelle Politik. Eine Politik, die abschottet, ausgrenzt und ständig vor der "Überfremdung" und "Überflutung" warnt, wird immer Rassismus produzieren.

In den dreißiger Jahren hat die Frankfurter Schule versucht, die Dominanz des Nationalsozialimus mit dem Begriff des autoritären Charakters zu erklären. Läßt sich dieser Begriff auf die heutige Entwicklung im Osten anwenden?

Nein. Der Begriff ist in dieser Form mittlerweile nicht mehr sehr aussagekräftig. Es gibt Autoritäre bei den Linken wie bei den Rechten und auch Liberale, die autoritär sind. Der Autoritarismus war sehr stark an seine Zeit gebunden. Rassismus ist aber weniger in einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur verankert, sondern vielmehr eine Reaktion auf das soziale Milieu und die Gesellschaft, und was diese an rassistischen Einstellungen unterstützt oder toleriert.

Wenn sich Politiker hinstellen und erklären, die DVU mobilisiere Protestwähler, ist dies besonders perfide, wenn dieselben Politiker Gesetze erlassen, um einen Arbeitsplatz zuerst an Deutsche zu vergeben, dann an EU-Mitglieder und anschließend den Rest der Menschheit - wo ist denn da noch der große Unterschied zu dem DVU-Slogan "Deutsche Arbeitsplätze zuerst für Deutsche"?

Die offizielle Politik trägt viel dazu bei, monokulturelles Denken hervorzurufen. Nach fünf Jahren Asylgesetzgebung traut sich heute keiner mehr, dies überhaupt noch anzugreifen. Die ganze Debatte um eine multikulturelle Gesellschaft ist völlig in sich zusammengebrochen. Es gibt derzeit keine Partei, die eine aktive Einwanderungspolitik macht. Das ist ein Erfolg der Konservativen und Rechten auf der ganzen Linie. Über die rechtsradikale Resonanz auf der Straße braucht man sich dann nicht mehr zu wundern - das ist eine Wechselwirkung zwischen Politik und Straße.

Eine Tendenz, die sich weiter durchsetzt.

Der Aufstieg der Rechten müßte den Deutschen klar machen, daß, wenn es so weitergeht, jede Form von Pluralität und Demokratie auf dem Spiel steht - nicht nur für Einwandererinnen und Einwanderer. Es geht auch um das eigene Interesse, um das Recht auf die eigene Differenz, um ein plurales und demokratisches Gemeinwesen. Das steht durch diese Entwicklung immer mehr auf dem Spiel.