Gelöbnis, Stasi-like

Mütter, Onkels, Feldjäger

"Mörder, Mörder!" Die Rufe sind deutlich zu hören. Dazu Gepfeife, Hupen, Sirenen, Lautsprecherdurchsagen. Doch die geladenen Gäste, links neben der Tribüne vor dem Roten Rathaus in Berlin stehend oder sitzend, um das öffentliche Bundeswehrgelöbnis von nahem zu verfolgen, scheinen sich an dem Geräuschteppich nicht zu stören. Selbst die Ansprache des Regierenden Bürgermeisters, der versichert, daß Berlin trotz der "lautstarken Minderheit" voll und ganz hinter der deutschen Armee stehe, scheint bei den meisten ebensowenig auf Interesse zu stoßen wie die Worte des Verteidigungsministers. Ein älterer, grauhaariger Herr mit kurzärmligem Hemd holt gelassen eine Wasserflasche aus seinem kleinen Rucksack, gibt seiner Begleiterin, blond, Anfang 40, mit Jeanshemd und Jeanshose, einen Schluck ab. Das Gerede langweilt sie offenkundig. Sie wollen vermutlich einfach ihren Sohn oder Enkel oder Neffen oder wen auch immer den Eid sprechen hören. Vielleicht sind sie auch nur ihm zuliebe zu seinem großen Tag gekommen, eigentlich haben sie mit dem ganzen Militärquatsch gar nicht viel am Hut, kann ja sein!

Die 332 Rekruten, die hier heute ihrem Vaterland die Treue schwören, durften Namen und Adressen angeben. Nur auf diese Art ausgewählte Angehörige bekamen - neben den Ehrengästen - eine Einladung zugeschickt. Warum sollten alle Eltern, Geschwister und Freunde, die hier das Spektakel verfolgen, ausgemachte Militaristen sein? Ab und zu steigt die Frau mit dem Jeanshemd auf einen Stuhl, wohl um zu überprüfen, ob ihr Junge noch da steht. Ja, er steht da noch. Sie klettert wieder vom Stuhl.

Auf der anderen Seite der Tribüne verfolgt unter anderem Heinz Schmidt das Militärspektakel. Heinz Schmidt ist auch ein Angehöriger eines der Rekruten, doch nicht nur das. Er hat heute zusätzlich noch einen Job. Er ist von der Bundeswehr auserwählter "Interviewpartner" für die Presse. So steht es jedenfalls an seinem Stuhl. Und wer ihn fragt, dem erzählt er, daß er sich freue, heute bei diesem Ereignis dabei sein zu dürfen, und hoffe, das nächste Gelöbnis könne am Brandenburger Tor stattfinden.

Es fängt an zu regnen. Zunächst nur ein wenig. Wer keinen Platz auf der Tribüne gefunden hat, rückt unter den großen Bäumen zusammen. Die Stimmung ist wenig gespannt. Auch der Marschmusik wird kaum Aufmerksamkeit gezollt. Wahrscheinlich geht es den hier Anwesenden nur um das Zeremoniell der Vereidigung selbst: Wenn der Sohn, Enkel, Kumpel die Worte spricht: "Ich gelobe". Jetzt ist es gleich soweit. Die Rekruten blicken ernst drein, aber das haben sie ja auch lange trainiert. Gleich der Schwur und dann wird sofort die Nationalhymne einsetzen. Als Belohnung sozusagen.

An den Lärmpegel im Hintergrund hat man sich schon fast gewöhnt. Doch da setzt plötzlich ein Zuschauer, der ganz vorne in der ersten oder zweiten Reihe steht, eine Trillerpfeife an und beginnt zu pfeifen, laut und schrill. Und plötzlich ist von der allgemeinen Gelassenheit nichts mehr übrig. Mindestens zwanzig dieser vermeintlichen Mütter, Onkels und Kumpels der Rekruten stürmen neben einigen Feldjägern auf den jungen Mann und einen Begleiter von ihm zu, um sie festzunehmen. Stühle fallen um, einige Menschen kreischen erschreckt auf, der Störer wird zu Boden gerissen, ein Rekrutenvater drischt mit einem Regenschirm auf ihn ein. Feldjäger halten ihn zurück. Dann liegt auch der Begleiter des Störers auf dem Boden, ein Feldjäger schlägt mit einem kleinen weißen Knüppel auf den wehrlosen Mann ein. Plötzlich sind fast alle Zuschauer Zivilpolizisten. Auch die Frau mit dem Jeanshemd faßt mit an, trägt den Störer zusammen mit anderen "Angehörigen der Rekruten" aus der Menge, übergibt ihn ihren uniformierten KollegInnen, die erstmal seine Personalien aufnehmen. Ob Interviewpartner Schmidt auf der anderen Seite der Tribüne das auch richtig verfolgen konnte? Er muß ja den Journalisten etwas erzählen können, wenn diese ihn nach seiner Meinung zu dem Vorfall fragen.