Existenzielle Reflektionen über RAF-Mitglieder

Wer war nun eigentlich in der militanten Gruppe? Eine Sprach-Analyse des Verfassungsschutzes sorgt für Verwirrung

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz hat man seine eigene Art zu rechnen: 17 Mal "rund um den Globus" plus 14 Mal "paradoxerweise" plus acht Mal die Wortkombination "Gesellschaft" und "Riß" ergibt einmal RAF-Mitgliedschaft für Ernst Volker Staub.

Das zumindest wollen die Kölner Geheimdienstler herausgefunden haben, nachdem sie die im April veröffentlichte Abschlußerklärung der RAF mit dem sogenannten Glins, dem "Gewaltliteratur-Informationssystem" abgeglichen hatten. Mehr als 16 000 Texte aus der militanten Linken sind in diesem Datenpool gespeichert. Im Vergleich lassen sich mit Glins nicht nur häufig benutzte Begriffe sowie Schreibstile der Autoren und Autorinnen herausfiltern. Durch regelmäßig auftauchende Fehler wollen die Verfassungsschützer auch "RAF-typische" Rechtschreibprobleme entdeckt haben. Demnach schrieben die Verfasser der letzten RAF-Verlautbarungen beispielsweise immer "existenziell" statt "existentiell" und "Reflektion" statt "Reflexion" - ein Weg für die Ermittler, die Authentizität der Erklärungen zu prüfen.

Schenkt man jedoch einem 38 Seiten starken Papier des Bundesamtes Glauben, dessen Inhalt vergangene Woche auszugsweise an die Öffentlichkeit geraten ist, so konnte auch der aufwendige Datenabgleich die Misere der deutschen Antiterrorspezialisten nicht beheben: Seit bald 15 Jahren tappen die Fahnder in Sachen RAF praktisch im dunkeln. Keiner der zehn Anschläge, die die Gruppe seit 1985 verübt hatte, konnten aufgeklärt werden. Selbst der einzige sichtbare Erfolg, der Einsatz des Verfassungsschutzspitzels Klaus Steinmetz, hat den Ermittlern offenbar keine weiteren Erkenntnisse gebracht. Zwar konnte durch ihn Birgit Hogefeld 1993 in Bad Kleinen verhaftet und ihr Lebensgefährte Wolfgang Grams aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet werden, doch die Restgruppe war damit nicht aufgelöst.

Wer also tatsächlich in der RAF organisiert war, vor allem aber, wer welche Rolle spielte, entzieht sich nach eigenen Angaben der Kenntnis der Sicherheitsbehörden. "Hinsichtlich der mit Haftbefehl gesuchten mutmaßlichen RAF-Angehörigen Sabine-Elke Callsen, Andrea Klump, Barbara Meyer, Horst Ludwig Meyer", schreibt die Kölner Behörde nach Aussage der Süddeutschen Zeitung, hätten sich "Zweifel an der tatsächlichen Zugehörigkeit zum Kreis der Illegalen ergeben". Es sei durchaus denkbar, daß die Gruppe zuletzt nur noch aus dem Ende der achtziger Jahre abgetauchten ehemaligen Hamburger Ernst Volker Staub, der früheren Wiesbadenerin Daniela Klette sowie Burkhard Garweg, nach dem bislang nie öffentlich gefahndet wurde, besteht. Aber auch das sei nicht sicher, heißt es in dem 38seitigen Schreiben, in dem insbesondere das Schlußkommuniqué der Gruppe vom April analysiert wird.

Das Resümee der RAF vom 29. November 1996 dürfte also weiterhin Gültigkeit behalten: "Sie haben noch nie wirklich durchgeblickt, wie unsere Strukturen aussehen." BKA-Fahndungsplakate seien "keine Mitgliedlisten der RAF", schrieben die Illegalen in einer Erklärung zur Rückkehr Christoph Seidlers. Gerade durch das Auftauchen des 39jährigen mit Hilfe des VS-Mannes "Hans Benz" im Rahmen des Verfassungsschutz-Aussteigerprogrammes wurde die Unfähigkeit von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft offensichtlich. Schließlich war Seidler jahrelang als RAF-Kopf und Mörder des Chefs der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, auf Tausenden von Fahndungsplakaten erschienen, obwohl er sich ganz offensichtlich die ganze Zeit im Libanon aufgehalten hatte, wie Benz bestätigt. Die RAF ging in ihrer November-Erklärung davon aus, daß der VS höchstwahrscheinlich bereits 1991 gewußt habe, "daß Christoph Seidler nie bei der RAF gewesen ist".

Zweifellos wissen die Geheimdienstler noch mehr. So berichtete der Spiegel nach dem Auftauchen Seidlers über weitere Kontakte des VS-Mannes Benz zu Illegalen, die der RAF zugeordnet werden. Demnach warten sowohl Sabine-Elke Callsen als auch Barbara Meyer derzeit ab, wie das Verfahren gegen Seidler ausgeht. Auch zu Andrea Klump, deren Vorwurf der Beteiligung am Herrhausen-Attentat auf der gleichen Grundlage basiert wie der gegen Seidler, hatte Benz Kontakt aufgenommen. Daß alle drei Frauen zu Unrecht auf der Fahndungsliste standen, wußte auch der Spiegel schon vor zwei Jahren. Neu sind allerdings die VS-Angaben, nach denen auch der Ehemann Barbara Meyers, Horst Ludwig, möglicherweise nichts mit der RAF zu tun gehabt habe. Schließlich wollten die Verfolgungsbehörden bislang glauben machen, der ehemalige Stuttgarter sei am Anschlag auf den Siemens-Manager Karl-Heinz Beckurts beteiligt gewesen.

Während sich das Bonner Innenministerium und die Kölner Verfassungsschützer nach Bekanntwerden der VS-Analyse "aus grundsätzlichen Erwägungen" in Schweigen hüllen, gibt man sich bei der Bundesanwaltschaft unbeirrt. Deutschlands höchste Strafverfolger halten nicht nur am Verfahren gegen Christoph Seidler sowie Haftbefehlen gegen Callsen, Klette, Staub, Klump und das Ehepaar Meyer fest, wie Behördensprecherin Eva Schübel der Jungle World sagte. Auch gegen zahlreiche weitere Personen, nach denen nicht öffentlich gefahndet werde, liefen noch Ermittlungsverfahren. Größenordnung und Namen will Eva Schübel freilich nicht nennen.

Einen Hinweis allerdings könnte die 38seitige VS-Studie liefern. Dort kommen die Geheimdienstler zu dem Schluß, die Auflösungserklärung sei wohl von einem "Redaktionskollektiv aus bisherigen Illegalen der RAF, ehemaligen Militanten der RAF" sowie von Autonomen verfaßt worden. Den Rest soll dann Glins klären.