No Justice, No Peace

Im M.I.B. organisieren sich die jugendliche Migranten aus den Banlieues französischer Großstädte

"Mit denen kannst du nur etwas machen, wenn du dich vollständig dem unterordnest, was sie an Konzepten im Kopf haben", sagt ein linksalternativer Aktivist über den M.I.B. Mit der 1995 gegründeten Initiative M.I.B. (Mouvement de l'immigration et des banlieues; Bewegung der Einwanderer und der Banlieues) hat das rebellische Potential der Banlieues einen eigenständigen organisierten Ausdruck gefunden.

Beachtung fand die Gruppierung vor allem durch ihre Aktivitäten gegen Polizeigewalt und die double peine, die "Doppelstrafe", die darin besteht, einen strafrechtlich verurteilten Ausländer nach seiner Haftstrafe noch zusätzlich mit Abschiebung und Aufenthaltsverbot zu belegen. In den übrigen gesellschaftlichen Oppositionsbewegungen stößt die Politik der konkreten Interventionen, wie sie der M.I.B. betreibt, auf ganz unterschiedliche Resonanz. Vielen gilt der M.I.B. als ausgesprochen "sektiererisch".

Rénald Luzier (Luz), Cartoonist der linken Satirezeitung Charlie Hebdo, kommt zu einem differenzierten Urteil: "Das mag zum Teil zutreffen, aber man muß auch dazu sagen, welche Form von 'Arbeitsteilung' die anderen antirassistischen Organisationen gegenüber dem M.I.B. betreiben. Jene Fälle der double peine, die ihnen als 'heikel' und imageschädigend gelten, weil die Betroffenen mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, werden dem M.I.B. zugeschoben. Sie selbst picken sich jene Fälle heraus, die als sauber erscheinen und dem Idealbild des 'netten' Immigranten, ohne Makel, entsprechen. Es ist klar, daß der M.I.B. von diesen Vereinen nicht viel hält und lieber seine Sache durchzieht."

Die Wände des M.I.B.-Büros in der Pariser Rue de Montreuil sind tapeziert mit Fotografien jugendlicher Immigranten, die in den letzten Jahren in den Banlieues durch Polizeigewalt zu Tode gekommen sind. Gestern, erzählen die M.I.B.-Leute, ist nach sieben Jahren Prozeßverschleppung ein Polizist freigesprochen worden, der im Jahr 1991 den Jugendlichen Youssef Khaif in der Pariser Vorstadt Mantes-la-Jolie erschossen hat.

Mit diesem und ähnlichen Fällen beschäftigt sich die jüngste Kampagne, an der die Aktivisten gerade arbeiten.14 Tage zuvor ist am selben Ort ein Jugendlicher im Polizeigewahrsam gestorben, und am selben Abend, an dem auch die tödlichen Schüsse fielen, war eine Polizistin von einem Jugendlichen bei einer Verfolgungsjagd mit einem gestohlenen Auto angefahren und tödlich verletzt worden. Während der Jugendliche, der den Unfall mit der Polizistin zu verantworten hat, über fünf Jahre in U-Haft verbrachte, sind die am Tod der beiden Jugendlichen schuldigen Polizisten nicht behelligt worden.

Das Verfahren gegen sie ruhte über einen längeren Zeitraum, bis es im Juni durch gezielte Interventionen des M.I.B. vorangetrieben wurde. Am 5. Juni organisierte der M.I.B. eine Veranstaltung in Mantes-la-Jolie, am 13. Juni rief er zu einem Marsch durch die Vorstadt auf. Da erst wurde auch die Öffentlichkeit aufmerksam und die Medien begannen sich mit dem Thema zu beschäftigen. Am 29. Juli entschied das Gericht allerdings auf Freispruch für die Polizisten. Der M.I.B. begann deshalb mit den Vorbereitungen für eine weitere Demonstration in Mantes-la-Jolie. Nachdem jedoch die Behörden akzeptiert haben, mit den Jugendlichen vor Ort zu verhandeln, ist die Protestkundgebung auf unbestimmte Zeit verschoben.

Häufig wird gegen die Gruppe der Vorwurf erhoben, M.I.B. schüre den "Haß auf Bullen". Haßparolen gibt hier, im Büro Rue Montreuil, allerdings niemand aus, keiner der anwesenden Aktivisten würde sich dagegen aussprechen, daß ein Jugendlicher, der einen Polizisten getötet hat, bestraft wird: "Aber auf derselben Grundlage wie die Beamten, die A•ssa und Youssef getötet haben. Das Recht muß das gleiche für alle sein. Aber wir erleben ein Zwei-Klassen-Recht." Solange dies so sei, gelte: "No justice, no peace!"

Im Rahmen ihrer Kampagnen arbeitet die Gruppe mit Rechtsanwälten und örtlichen Initiativen in den Cités zusammen, aber auch außerhalb gezielter Interventionen kooperiert man mit anderen, insbesondere mit den Selbstorganisationen der Arbeitslosen wie AC! ("Gemeinsam handeln gegen die Erwerbslosigkeit") haben sich Ansätze für eine Zusammenarbeit ergeben. So haben der M.I.B. und AC!, unterstützt von einer linksradikalen studentischen Gruppe, im Frühjahr dieses Jahres ein Verwaltungsgebäude der Universität Paris-10 in der Vorstadt Nanterre besetzt. Das Gebäude wurde am Morgen des Ostersonntag, zu einem Zeitpunkt, als das Interesse der Medienöffentlichkeit gering war, polizeilich geräumt.

Staatliche Repression und Polizeigewalt sind die Hauptthemen des M.I.B., der jedoch zunehmend auch auf sozialem Gebiet interveniert. So griff die Gruppe Ende 1997 in den Arbeitskampf der Putzfrauen - überwiegend Immigrantinnen - an den Schulen und Kinos in der Pariser Banlieue Garges-les-Gonnesses ein, um den Streikbruch durch die Beschäftigten einer Privatfirma aktiv zu verhindern.

Mißtrauisch allerdings sind die Aktivisten gegenüber den "weißen" antirassistischen und politischen Organisationen. "Ich war immer wieder erstaunt", berichtet Sardène Sadgui, "wenn ich in meiner Umgebung ausgefeilte marxistisch-leninistische Analysen des Immigrationsproblems zu hören bekam. Das war das Erbe der maoistischen und trotzkistischen Organisationen, die viele unserer Aktivisten durchliefen, bevor sie sich uns anschlossen."

Der marxistische Ansatz, der die Immigranten "zu einem Ersatzproletariat machen" wolle, werde jedoch "den spezifischen Situationen der Immigranten nicht gerecht", schon gar nicht den Algeriern, "die durch eine Art des kolonialen Apartheidsystems gegangen sind", war das nordafrikanische Land doch als Siedlungskolonie mit über einer Million Europäern bevölkert worden, die rund acht Millionen Muslime als "Bürger zweiter Klasse" dominierte.

"Das entscheidende Problem ist", so Sardène, "sich selbst zu definieren, wer man ist, woher man kommt, und wie man sich selbst in die Zukunft projiziert. Es geht darum, einen eigenen Diskurs zu führen, nicht, eine bestehende Theorie zu übernehmen." Man könne nur mit anderen einen Dialog führen, wenn man eine eigene Stimme hat.

Aber genau dies, so Noredinne Iznasi, versuche die "offizielle Gesellschaft zu verhindern". Man wolle den Leuten in den Banlieues das Wort entziehen, und eine Reihe von Organisationen sei eigens zu diesem Zweck gegründet worden, z.B. die als verlängerter Arm des ƒlysée-Präsidenten-Teams zur Regierungszeit Fran ç ois Mitterrands initiierte Vereinigung S.O.S. Racisme.

1981, als die ersten Riots in der Cité Les Minguettes in der Lyoner Vorstadt Vénissieux ausbrachen, traten die Immigranten erstmals ins Bewußtsein der französischen Öffentlichkeit, sagen Noredinne und Nora Aguerguan.

1983 taten sich Tausende von Immigrantenkindern in ganz Frankreich zu einem "Marsch für die Gleichheit" zusammen, der sternförmig auf Paris zuführte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Frankreich seine Einwanderer zumeist als Gäste betrachtet, die nach getaner Arbeit wieder nach Hause gehen würden. Nunmehr aber forderten die Angehörigen der zweiten Generation, die in Frankreich geboren und aufgewachsen waren, ihre Anerkennung als Teil der französischen Gesellschaft.

Diese im Entstehen begriffene Bewegung mußte dringend vereinnahmt werden. Die 1981 angetretene Linksregierung gewährte den ausländischen Staatsbürgern erstmals das Recht, Vereine zu gründen - und schuf in der Folgezeit selbst Organisationen, um die Definitionsmacht über ihre Staatsbürger nicht aus der Hand zu geben. Kommunikationsfachleute, wie Jacques Séguèla, Chef einer großen Werbeagentur, die Fran ç ois Mitterrand zuarbeitete und heute u.a. KP-Chef Robert Hue berät, wurden beautragt, Strategien der Sympathiegewinnung auszuarbeiten.

Zugleich wurde viel Geld für Konzerte und Veranstaltungen bereitgestellt, es wurden Animateure ausgebildet, die in Psychologie und Kommunikation geschult wurden. "Diese neuen Kader kehrten ihrer Cité bald den Rücken, oder aber sie kamen zurück und versuchten die Leute mit Bauchtanzkursen zu beschäftigen. Hauptsache, sie kümmerten sich nicht um die die wirklichen Probleme wie die Polizeigewalt oder die Frage: Warum wohnen die Leute in Baracken, die für den Durchgang gedacht waren und seit Jahrzehnten hier stehen? Warum ist dieses Viertel nicht mal im Stadtplan ausgewiesen - weil man sich dafür schämt?", fragt Noredinne.

Die offizielle Linke habe die Immigranten stets nur für ihre eigenen Zwecke benutzt, um sie dann wieder fallenzulassen. So wurden in diesem Frühjahr - anders als zur Hochzeit der S.O.S. Racisme-Periode in den späten achtziger Jahren - keine Immigranten auf die Wahllisten der Sozialdemokraten und der Grünen mehr aufgenommen. Ahmed Ghayet, seit 13 Jahren Parteimitglied, mußte schließlich seinen bereits gewonnenen Listenplatz bei den Sozialisten räumen, weil in letzter Minute Platz für einen Kandidaten des Bündnispartners - der linksnationalistischen Partei von Innenminister Chevènement - gemacht werden mußte.

Zufällig mußte der Bewerber mit dem arabisch klingenden Namen weichen. Für die M.I.B.-Aktivisten steht fest, daß die Migranten auch von linken Politikern wenig zu erwarten haben. "Sie kommen alle aus derselben Gußform, jener der Kolonialgesellschaft", meint Sardène, "das prägt viel stärker als der Kampf zwischen Links und Rechts."

Während reaktionäre Identitätspolitiker - wie etwa radikale Islamisten - Demokratie und Menschenrechte, die Errungenschaften der französischen Gesellschaft und den Ideenbestand von 1789 als von außen importierte "westliche Werte" grundsätzlich verwerfen, da sie durch die Praxis der Kolonialmacht, die diese Ideale repräsentierte, diskreditiert sind, vermeidet der M.I.B. diese Art von Lösung.

Sardène weicht auf einen pragmatischen Ansatz aus: "Ich habe die republikanische Devise - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nicht erfunden, sie wird von außen an mich herangebracht. Aber indem ich hier lebe, stelle ich fest, daß sie von jenen, die sie proklamieren, nicht angewandt wird. Ich beschränke mich deshalb darauf, das von dieser Gesellschaft einzufordern, was sie selbst verkündet, und ich zeige die Kluft zwischen Anspruch und Realität auf. Innerhalb dieses Rahmens wollen wir unsere Rechte, die wir theoretisch haben, geltend machen."