Auf dem letzten Loch

Von der Deregulierung zur Regulierung.

Schon seit seinen Anfängen taumelte das kapitalistische Schizo-Bewußtsein zwischen Staats- und Marktorientierung hin und her. Wäre die ursprüngliche Akkumulation ohne den starken Dirigismus der absolutistischen Staaten gar nicht möglich gewesen, so verschob sich das Gewicht im 19. Jahrhundert nachhaltig zum freihändlerischen Manchester-Kapitalismus, um in den Kriegswirtschaften und nachholenden Entwicklungsdikaturen des 20. Jahrhunderts wieder zur Staatsökonomie zurückzupendeln. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat mit seinem "deficit spending" setzte diese interventionistische Linie fort.

Als jedoch der fordistische Wachstumsmotor im Laufe der siebziger Jahre weltweit zu stottern begann und trotz der Anwendung des gesamten wirtschafts- und geldpolitischen Instrumentariums nicht wieder auf Touren kommen wollte, kam die nächste Kehrtwende. Das keynesianische "sozialdemokratische Zeitalter" ging zu Ende und wurde vom neoliberalen rigiden Marktradikalismus abgelöst. Hatten in den fünfziger und sechziger Jahren Nationalstaaten mit ihren Mitteln die Volkswirtschaften auf Wachsumskurs gehalten, so übernahm in den achtziger und neunziger Jahren die Dynamik der transnationalen Finanzmärkte diese Funktion.

Die Aufblähung der Aktienmärkte und des Kreditüberbaus, die beständige Selbstvermehrung von spekulativem Kapital wurde zur "materiellen Grundlage" einer Weltkonjunktur, an der die entgrenzten Volkswirtschaften umso eher partizpieren konnten, je hemmungsloser sie der Logik des "Sich-reich-Rechnens" folgten. "Deregulierung" hieß nun das Zauberwort, das sich - von Nordkorea und Libyen einmal abgesehen - die Regierungen rund um den Erdball eine nach der anderen in der Hoffnung zu eigen machten, damit der Wunderwirkung des erblühenden globalen Neokapitalismus teilhaftig zu werden. Zwanzig Jahre lang galt jeder staatliche Eingriff in das freie Spiel der Marktkräfte als Angriff auf Wachstum und Wohlstand.

In den letzten Monaten hat sich der Wind indes schlagartig gedreht. Die Neoliberalen leiern natürlich weiter ihre Gebetsmühlen. Sie werden aber zunehmend von Stimmen übertönt, die plötzlich von der Verantwortung der Politk schwadronieren, "politische Führung" einfordern und den Staat wieder in der Pflicht sehen. Aus so unterschiedlichen Kehlen wie der des Hongkonger Regierungschefs Tung, des linken französischen Soziologen Pierre Bourdieu und des Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt tönt der gleiche Schmerzensschrei, der auch in Rußland die Runde macht: "Die Politik muß den Spekulanten das Handwerk legen, der Staat muß die Wirtschaft retten."

Der Grund für diese Panik ist leicht zu erkennen. Der Globalisierungskapitalismus schrammt am Abgrund entlang. Das wundersame Spiel allgemeiner Verschuldung und allgemeinen Reichrechnens, das die gesamte Wirtschaft antreibt, funktioniert nicht mehr. Das gilt zunächst einmal für die Weltmarktperipherie. Innerhalb eines Jahres sind die "emerging markets" entweder bereits kollabiert (Südostasien, Rußland) oder stehen am Rande des Bankrotts und senden Notsignale (Brasilien).

Das transnationale Geldkapital, dessen beständiger Zufluß die sagenumwobenen Exportkonjunkturen (Tigerstaaten) und das Stopfen der staatlichen Haushaltslöcher (Rußland) möglich gemacht hat, flieht und die Geldvermögen der einheimischen Anleger gleich mit. Die Aktienkurse purzeln. Der damit einhergehende Absturz des Außenwerts der Währungen läßt nicht nur die Lebenshaltungskosten explodieren, er macht lebenswichtige Importe für Länder wie Rußland und Indonesien unfinanzierbar.

Trotz scheinbarer Konkurrenzvorteile durch die Abwertung der heimischen Währung bricht die Exportoffensive der vermeintlichen südostasiatischen Wunderkinder zusammen, weil die betroffenen Länder kaum mehr in der Lage sind, die notwendigen Vorprodukte weiter zu importieren, geschweige denn die überfälligen Investitionen in die Infrastruktur zu bezahlen. Die Abhängigkeit der Realwirtschaft von der Expansionsbewegung des verselb-ständigten Finanzüberbaus macht sich höchst schmerzhaft bemerkbar.

Kein Wunder, daß gerade in diesen Ländern tragende Teile der politschen Klasse wie Junkies reagieren, die über Nacht von ihrem Dealer im Stich gelassen wurden. Laut Handelsblatt (2. September) "steigert sich die Regierung Hongkongs in eine regelrechte Kriegsstimmung". Professor Jao Yuching, Mitglied des Devisenfonds-Beratungsausschusses, scheint die herrschende Meinung zu vertreten, wenn er untreue Ex-Geldgeber des Landes als "Parasiten mit verfaulten Lebensgewohnheiten" denunziert.

Am schlimmsten vom Turkey geschüttelt zeigt sich im Augenblick aber offenbar Malaysia. Dort mischen sich nicht nur offen antisemitische Töne in den Feldzug gegen die "Spekulantenbrut". Auch die praktischen Maßnahmen, die Ministerpräsident Mohamad Mahathir ergriffen hat, fallen in ihrer Stoßrichtung ziemlich eindeutig aus. Anfang des Monats schickte er seinen liberalen Finanzminister Anwar Ibrahim in die Wüste, übernahm selber dessen Amt und führte als erstes Devisenkontrollen ein. In- und ausländischen Anlegern soll es unmöglich gemacht werden, weiterhin Vermögen in der heimischen Währung, dem Ringgit, aufzulösen und in Dollars umzuwandeln.

Welche Folgen dieser Anschlag auf die freie Konvertibilität und den freien Kapitalverkehr zeitigen wird, läßt sich vorhersehen. Malaysia kann über Jahre hinaus nicht mehr mit Kapitalimporten rechnen, während die Kapitalflucht auf illegalem Wege weitergehen wird. In dieser Situation bleibt nur ein Ausweg: Der Geldstoff, der von außen nicht mehr zufließt, muß ersatzweise im eigenen Land erzeugt werden. Der Staat muß seine laufenden Ausgaben und die überfälligen Konjunkturprogramme mit der Notenpresse finanzieren. Auf den ersten, der abwertungsbedingten Verteuerung aller Importe geschuldeten Inflationsschub wird eine durch die Aufblähung der heimischen Geldmenge erzeugte Hyperinflation folgen.

Dieselbe Verlaufsform deutet sich in sämtlichen Krisenländern an, vor allem in Rußland. Auch Moskau kann nicht mehr damit rechnen, privates Geldkapital in nennenswerten Umfang anzuziehen. Ebenso dürften sich sowohl der IWF, dessen Kassen durch die Stützungsaktionen des laufenden Jahres gründlich geleert wurden, als auch die ausländischen Regierungen bis auf weiteres eher knausrig zeigen. Aus dem laufenden Steuereinkommen, das lediglich bei elf Prozent des offiziellen Bruttosozialprodukts liegt, kann sich der russische Staat angesichts massiver Wirtschaftseinbrüche und der mafiotischen Struktur der wenigen Exportbranchen nie und nimmer finanzieren. In dieser Situation kann die Rückbesinnung auf die staatlichen Regulationsaufgaben nur einen Inhalt haben: die Rückbesinnung auf das "Recht" des Staates zu Geldschöpfung und Inflationierung.

Diese Schlinge, von der die Staaten der Weltmarktperipherie schon stranguliert werden, zieht sich aber auch um den Hals der westlichen Staaten zusammen. Der auf Südostasien begrenzte Crash und die Fluchtbewegung aus Japan und Lateinamerika hatten zwar in der ersten Jahreshälfte 1998 in den Ausweichregionen USA und Europa zunächst noch einmal eine Kursexplosion auf dem Aktienmarkt ausgelöst, von der die Pseudokonjunktur in diesen Ländern paradoxerweise stabilisiert wurde. Aber seit der Rußlandkrise ist es damit vorbei. Und sobald die globalen Kreditketten reißen, werden auch die zentralen Abteilungen der kasinokapitalistischen Weltgesellschaft, nämlich die Triade Japan, USA und EU, im Orkus verschwinden. Die derzeitigen Kursverluste sind erst ein Vorspiel.

Angesichts dieser mit Händen zu greifenden Bedrohung ist nichts so albern und doch gleichzeitig vom Standpunkt des kapitalistischen Verstandes aus so logisch wie der Sprung zurück von der Anbetung des Marktes zu der des Staates - jetzt aber verbunden mit der Remobilisierung von Elementen der Nazi-Ideologie ("schaffendes" versus "raffendes" Kapital).

Daß - anders als in der Zwischenkriegszeit - der nationalökonomische Bezugsrahmen längst gesprengt ist und die vermeintliche Emanzipation vom Kapital für den Staat den Verlust seiner eigenen Finanzierungs- und Haftungsgrundlage bedeutet, tut der ideologischen Mobilisierung keinen Abbruch. Sie wird im Gegenteil gerade dadurch erst gemeingefährlich. Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt deklamierte im Leitartikel der Zeit: "Die Funktionstüchtigkeit des freien Welthandels und der hoch arbeitsteiligen globalen Wirtschaft ist für sechs Milliarden Menschen wichtiger als die exzessive Freiheit einiger zehntausend habgieriger Dealer und Manager, die auf den kurzfristigen Finanzmärkten herumtoben." Gleichzeitig klagte er "eine große nationale Willensanstrengung" und deshalb "politische Führung" ein. Wohin geführt werden soll und mit welchen Mitteln, das sagt der Chefökonom der Nation a.D. wohlweislich genausowenig wie alle anderen Spekulantenjäger.