Ulrich Enderwitz

Kalkulierender Wahn

Die Börse als Religionsersatz.

Der IWF hat dem internationalen Finanzier George Soros vorgeworfen, ohne seine Einflußnahme wäre die Krise in Rußland zu bewältigen gewesen.

Das ist völliger Blödsinn. Wenn die Entwicklung auf den Finanzmärkten aus dem Ruder läuft, dann sind die Spekulanten - wenn überhaupt - vielleicht die Auslöser, aber niemals die Ursache. Wir brauchen Rußland nur als Warenabnehmer und Rohstofflieferant. Es gibt in den Industrieländern gar kein Interesse, daß sich dort eine eigenständige Industrie etabliert, statt dessen wird Kapital entwertet. Da es zuviel Kapital gibt, das sich nicht rentieren kann, liegt der einzige Weg darin, dieses Kapital eben zu zerstören.

Auch im Positiven wird der Börse einiges zugetraut. Sie hat in jüngster Vergangenheit eine fast magische Anziehungskraft entwickelt. In den USA liegt die Sparquote beispielsweise praktisch bei Null, fast die Hälfte des gesamten Vermögens ist dort in Aktien angelegt. Ist diese Entwicklung überhaupt noch mit wirtschaftlichen Begrifflichkeiten zu erklären?

Das ist ein kollektiver Wahn. Seit Keynes gilt der Gedanke, daß wirtschaftliches Wohlergehen vom Good-will der Beteiligten abhängt: Wenn alle daran glauben und optimistisch sind, dann erfolgt auch der Aufschwung. Dieser Überlegung entspricht heute der Glaube: Wenn die Aktienkurse steigen, dann handele es sich dabei um ein Anhäufen realer Werte.

Doch der wahnhaft erzeugte Höhenflug kann sich nicht ewig fortsetzen. Die Finanzmärkte haben sich zwar gegenüber der Realökonomie verselbständigt, hängen aber trotzdem noch an der Kette der wirtschaftlichen Realität. Auch wenn man den Eindruck gewinnt, daß es sich bei der Börse um eine reine Glaubenssache handelt, basiert sie dennoch auf sehr irdischen Fakten.

Jeder handelt individuell sehr rational und sucht sich die günstigste Anlagemöglichkeit für sein Geld. Insgesamt entwickelt sich daraus aber ein völlig irrationaler Zusammenhang.

So rational ist das individuelle Verhalten gar nicht. Die Leute sind in einer "Notlage" und wählen das geringere Übel. Sie stehen vor der Alternative, ihr Kapital zu konsumieren - aber so viele Bedürfnisse können sie gar nicht haben. Oder sie bringen es zur Bank - dort bringt es jedoch zu wenig Rendite. Oder sie gehen eben beschwörerisch zur Börse, wo "Wert" geschaffen wird. Dadurch entsteht eine ungeheure Nachfrage. Deshalb reden alle von der "Psychologie der Märkte", weil die Sache tatsächlich aus dem Ruder gelaufen ist: Die Hoffnung auf eine völlig unrealistische Rendite erzeugt Preise, die in keinem Verhältnis mehr zu den möglichen Gewinnerwartungen stehen. Das ist die Faszination, die von der Aktie, dem capital sans phrase, ausgeht. In dem Maß, wie die gewinnbringende Produktion zu verschwinden droht, wächst das Bedürfnis, an die Quellen des Reichtums zu gelangen. Das Verhalten an der Börse hat etwas Beschwörendes, man will möglichst dicht an das gelobte Land heran.

Gleichzeitig geht aber die Angst um, daß sich wieder ein Crash, wie vor siebzig Jahren, anbahnen könnte.

Jeder ahnt, daß dies auf Dauer nicht funktionieren kann. Die Anleger beginnen sofort zu verkaufen, sobald es irgendwo ernsthafte Schwierigkeiten gibt. Daher kommt es zu diesen Kursstürzen, die nur deshalb nicht so gewaltig ausfallen, weil es mittlerweile ungeheure staatliche Apparate gibt, die intervenieren, um Schlimmeres zu verhindern. Eine ökonomische Situation wie in den zwanziger Jahren haben wir noch nicht. Aber diese Situation kann noch kommen.

Es müßte doch allen Beteiligten klar sein, daß die Erwartung ewig steigender Gewinne sich nicht erfüllen kann.

Nur unter der Voraussetzung, die Beteiligten würden den gesamten wirtschaftlichen Hintergrund im Kopf behalten - das tun sie aber nicht. Sie wissen zwar, daß etwas nicht stimmt an der Geschichte, aber gleichzeitig glauben sie an das Wunder der Börse: Irgendwie steckt etwas dahinter, das Gewinne produziert. Wie das funktioniert, weiß zwar niemand so richtig. Aber wenn sich so viele darauf stürzen, dann muß auch etwas Solides dahinterstecken. Da kann man sich jederzeit selbst betrügen.

Ist der Glaube an das Wunder der Börse ein religiöses Phänomen?

Als Fetisch, als Glaube an eine selbstgebastelte Heilsmacht, einen Popanz, ist dieser Glaube Religion. Aber insofern dieser Glaube sich unterläuft und sich zur Sache reiner Psychologie, reinen Festhaltens an sich erklärt, ist er höchstens Religionsersatz. Er ist die Hoffnung, die sich eigentlich nur noch an sich selber klammern kann, weil sie ständig im Begriff ist, an ihrem eigenen Fetisch zu verzweifeln.

Ist die Börse also nur ein Treffpunkt für Wundergläubige?

Anders gefragt: Wozu dient die Börse? Hier werden Kapitalien nach Maßgabe ihrer Renditenerwartung gehandelt und unterliegen damit dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Das Problem ist nun, daß die Aussichten für die Renditen katastrophal sind. Der Markt leidet seit geraumer Zeit an einer relativen Übersättigung und Überproduktion, so daß nicht zu erwarten ist, daß unter diesen Bedingungen langfristig große Gewinne realisiert werden können. Relative Überproduktion bedeutet, daß sehr viele Menschen Not leiden, weil sie nicht über die notwendigen Mittel verfügen, um ihre Bedürfnisse befriedigen zu können, während die anderen zuviel davon besitzen und überversorgt sind.

Mit welchen Strategien wird versucht, dem Problem zu begegnen?

Unter diesen Bedingungen gibt es zwei Strategien, mit denen das Kapital seine Rendite zu sichern versucht. Die erste wird in den hochindustrialisierten Ländern praktiziert: Man versucht durch Lohnsenkung, Rationalisierung und Sozialabbau so billig wie möglich zu produzieren. Die Folge ist ein harter Wettbewerb zwischen den industrialisierten Ländern. Einmal wird die USA, dann wieder Großbritannien als Vorbild hochgehalten, aber am Ende geraten die Staaten in eine Spirale nach unten, indem sie die Kaufkraft des Binnenmarkts zerstören.

Die andere Strategie ist, in den sogenannten Schwellenländern neue Märkte aufzubauen. Nur haben diese Länder kaum Geld, um Waren abzunehmen, so daß die internationalen Organisationen gezwungen sind, Kredite zu vergeben. Der Westen leiht ihnen also Geld, damit sie seine Waren kaufen. Wenn diese Potemkinschen Dörfer wackeln, wie z.B. in Indonesien oder Rußland, dann wird die Auswegslosigkeit dieser "Strategie" deutlich. Weder die Konkurrenz der Industrienationen untereinander, noch die vermeintlichen neuen Märkte in der "Dritten Welt" bieten eine Lösung.

Daraus folgt ein Dilemma: Die Menge des vorhandenen Kapitals steht umgekehrt proportional zur Renditenerwartung. Genau dieses Dilemma hat die jüngste Krisenentwicklung erst richtig in Gang gebracht.

Nachdem jahrelang der "freie Markt" beschworen wurde, häufen sich nun die Klagen, daß die staatlichen und internationalen Institution die Kontrolle über den "Casino-Kapitalismus" verloren hätten. Jetzt gelte es, den Geist wieder in die Flasche zu zwingen und neue Regulationsformen zu finden ...

Diese Forderungen treffen das Problem überhaupt nicht. Auf staatlicher Ebene gilt noch das Kalkül der traditionellen Wirtschaftspolitik. Die Politik handelt zwar noch rational, aber das ist eine Irren-Rationalität, die auf Kosten der anderen überleben will und doch alle Beteiligten erst recht in die Tiefe reißt.

Bisher ist es immer noch gelungen, eine scheinbare Stabilität aufrechtzuerhalten. Aber das eigentliche Problem besteht darin, daß die polit-ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft nicht mehr zur Kenntnis genommen werden. Das Kapital, das ständig seine Rendite fordert, gilt als sakrosankt und unantastbar. Aber das System funktioniert nicht mehr.

Die einzige Konsequenz aus dieser chronischen Krankheit wäre derzeit eine Kommandowirtschaft bzw. ein Staatssozialismus traditioneller Prägung. Das traut sich derzeit noch niemand so recht. Bei der weltweiten Verflechtung würde jedes Land sofort in Schwierigkeiten geraten, wenn es versuchen würde, dirigistische Maßnahmen zu ergreifen.

Ulrich Enderwitz ist Publizist und lebt in Berlin.