Was kommt nach dem Neoliberalismus?

Taliban im Weißen Haus

Soviel Krise war selten. Zuerst die asiatische Tigerdämmerung, dann die russische Misere, seit kurzem auch Lateinamerika. Und jetzt kommt nach dem Fall von Boris Jelzin auch noch Bill Clinton als politischer Unsicherheitsfaktor hinzu. Gewiß, die US-Regierungskrise mag im Vergleich zu Rußland lächerlich erscheinen; während die Menschen in Moskau mit Hunger und bald mit Kälte zu kämpfen haben, beschäftigen sich die halben USA mit der Frage, was der Gärtner alles im Weißen Haus gesehen hat.

Dennoch kann das politische Erdbeben in Washington massive Folgen haben. Nach den weltweiten Turbulenzen scheinen allenfalls der Dollar und die westeuropäischen Währungen noch halbwegs sicher zu sein. Doch seit einiger Zeit verschlechtern sich die US-amerikanischen Konjunkturdaten: Das Wachstum ging im zweiten Quartal des Jahres wegen der Handelseinbrüche nach Asien drastisch zurück; welche Folgen ein Rückgang der Ausfuhren nach Lateinamerika nach sich ziehen würde, ist noch gar nicht abzusehen. Ein Fünftel der US-amerikanischen Exporte werden dorthin verkauft.

Sicher ist hingegen, daß das US-Haushaltsdefizit in diesem Jahr die Rekordsumme von 240 Milliarden Dollar erreichen wird. Vermutlich wird die Zahl sogar noch höher liegen. Und ein Drittel des US-Konsums basiert auf dem spekulativen Kapital der aufgeblasenen Aktienwerte, die sich jederzeit in Luft auflösen können.

Europa scheint hingegen vorerst noch glimpflich davonzukommen. 80 Prozent der Handelsbeziehungen spielen sich innerhalb der EU-Grenzen ab, ein Zehntel geht in die USA, der Rest in die übrige Welt. Europa scheint, nachdem es jahrelang zuerst im Vergleich mit den dynamischen Tigerstaaten, dann mit dem US-Boom, als völlig rückständig galt, wieder an Boden zu gewinnen. Unter Blinden ist der Einäugige König. Das scheinen auch die Deutschen intuitiv zu erfassen: Seit Jahresbeginn steigt die Zahl der Euro-Befürworter kontinuierlich an.

Die Attraktivität der neuen Währung wird sich vermutlich nicht auf die Gegend zwischen Hamburg und Konstanz beschränken. Denn mit dem Ende der alten "Neuen Weltwirtschaftsordnung" sind die Konturen einer neuen Bipolarität abzusehen: Der Yen sinkt zu einer Regionalwährung herab, die Welt wird zwischen Euro und Dollar aufgeteilt. Doch während Europa noch auf eine halbwegs stabile Wirtschaftskraft bauen kann, verfügt die USA auf einem anderen Gebiet über eine absolute Überlegenheit. Ihnen steht ein weltweit einmaliges Arsenal zu Verfügung, das den Anlegern angesichts globaler Zusammenbrüche ein ganz elementares Gefühl der Sicherheit vermitteln kann: Bomben und Atomraketen.

Da kommt Kenneth Starr, der "Taliban der moralischen Ordnung" (Le Journal du Dimanche), gerade zur rechten Zeit. Der Neoliberalismus ist blamiert, ideologischer Ersatz gesucht. Die amerikanischen Fundamentalisten sitzen in den Startlöchern, bereit, die Führung zu übernehmen. Wie der Übergang von den liberalen zur fundamentalistischen Werten vor sich gehen kann, ist gerade beim ehemaligen US-Erzfeind in Moskau live zu erleben.