Islamismus der Bauernlümmel

Gotteskrieger, Geheimdienstler und Generäle im Kampf um Afghanistan

Eines Nachts im Jahre 1994, so die Legende der Taliban, erschien Gott dem Religionslehrer Mohammad Omar im Traum und gebot ihm, Afghanistan zu einen und von der Sünde zu erlösen. Omar machte sich mit 30 seiner Schüler (Talib bedeutet Schüler oder Student) auf den Weg und konnte schon zwei Jahre später in Kabul einmarschieren. Heute kontrollieren die Taliban etwa 90 Prozent des afghanischen Territoriums und nehmen für sich in Anspruch, den "reinsten" islamischen Staat zu führen.

Die Wahrheit ist etwas weltlicher. Irgendwann 1994 entdeckten pakistanische Geheimdienstler oder CIA-Agenten in einem Flüchtlingslager in Nordpakistan eine Gruppe, die ihnen geeignet schien, Afghanistan gewaltsam zu einen. Sie statteten diese Gruppe mit soviel Geld und Waffen aus, daß sie allen anderen überlegen wurde, und hofften, daß sie ihnen den Weg für den Bau einer Pipeline nach Mittelasien freischießen würde.

Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen und dem Sturz des von ihnen unterstützten Regimes waren die siegreichen Islamisten übereinander hergefallen - sehr zum Unwillen ihrer Förderer, die nach dem Zerfall der Sowjetunion die gewaltigen Ölfelder Mittelasiens erschließen wollten, ohne die dafür erforderlichen Pipelines durch so schwer kontrollierbare Staaten wie Iran und Rußland zu legen. Pakistan, in dessen Häfen das Öl verladen und möglicherweise raffiniert würde, hatte ein ebenso großes Interesse an der Route durch Afghanistan wie die USA, deren Ölkonzerne sich in Mittelasien die besten Kontrakte sichern konnten. Beide Staaten sahen, ebenso wie Saudi-Arabien, in der Unterstützung der sunnitisch-extremistischen Taliban ein Mittel, den iranischen Einfluß zurückzudrängen.

Die Taliban sind ein Produkt der gesellschaftlichen Zerrüttung und der Perspektivlosigkeit. Ohne Unterstützung hätte Omar es aber wohl nicht einmal zum Warlord gebracht, und die meisten Siege errangen seine Truppen durch die Bestechung feindlicher Kommandanten.

Über die innere Struktur der Taliban ist wenig bekannt. Die Bewegung entstand unter afghanischen Flüchtlingen ländlicher Herkunft, sie rekrutiert fast ausschließlich Paschtunen. Seit neuerem schließen sich auch viele Pakistanis an. Ideologisch orientiert sie sich am vorkolonialen Fundamentalismus, dem die Auseinandersetzung mit dem überlegenen Westen noch fremd war.

Den Taliban fehlt, anders als der Hauptströmung des Islamismus, die Orientierung auf den Anschluß an die Moderne sowie jeglicher Sinn für entwicklungspolitische Erfordernisse. Während die meisten islamistischen Organisationen Frauenbildung befürworten und Frauenerwerbsarbeit akzeptieren, solange sie das Patriarchat nicht in Frage stellt, wollen die Taliban Frauen völlig aus dem öffentlichen Leben verbannen und nicht einmal religiös bilden.

Es ist fraglich, ob dieser Islamismus der Bauernlümmel ein funktionierendes Staatswesen begründen kann. Die Taliban-Politik steht nicht nur im Widerspruch zu den Bedürfnissen der "verwestlichten" Stadtbevölkerung, sondern auch zur Kultur des traditionellen Islam - dessen religiöse Symbole hatten die Taliban als erstes zerstört. Vom Tugendterror abgesehen, gibt es kein politisches Programm. Auch dort, wo die Taliban schon länger an der Macht sind, kann von Wiederaufbau keine Rede sein, und ihr Fanatismus hat nun auch die Hilfsorganisationen vertrieben.

Die Taliban-Bewegung ist politisch unreif, niemand weiß, in welche Richtung sie sich entwickeln wird. Dies birgt Risiken für ihre Unterstützer, insbesondere für Pakistan. Dort betreibt die Regierung der Muslim-Liga unter Nawaz Sharif eine "Islamisierung" von oben, die gemeinsam mit der Unterstützung islamistischer Gruppen in Afghanistan und Kaschmir die islamistische Opposition gestärkt hat. Der Zustrom an Geld und Waffen in das paschtunische Nordpakistan hat die dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen beflügelt. Islamistische Gruppen und traditionelle Führer dieser Region verhandeln jetzt unabhängig von der Zentralregierung mit den Taliban und drohen mit der Abspaltung von Pakistan, wenn ihren Forderungen nach weiterer "Islamisierung" nicht nachgegeben wird.

Bei der US-Regierung waren in letzter Zeit Zweifel aufgekommen, ob die Taliban nach saudischem Vorbild innenpolitischen Tugendterror mit einer prowestlichen Außenpolitik verbinden würden. Es gibt eine antiwestliche Strömung bei den Taliban, zudem hatte sich die Bewegung mit Ussama Bin Laden verbündet, einem ehemaligen Mittelsmann der CIA in Afghanistan, der zum Feind der USA mutierte. Deshalb befanden die USA es für notwendig, die Taliban durch ein paar Cruise Missiles auf die Probe zu stellen. Der Angriff auf Bin Ladens Lager sollte ihnen klarmachen, daß sie ihre Beziehungen zu antiwestlichen Kräften lösen und sich den US-Interessen beugen müssen, wenn sie nicht einen Spitzenplatz auf der Liste der "Schurkenstaaten" einnehmen wollen.

Bin Laden verfügt über beträchtlichen Einfluß in Afghanistan und über profunde Kenntnisse der geheimdienstlichen Strukturen der Region. Deshalb sollte er beseitigt werden.

Während dieser Teil des Planes mißlungen ist, wurde ein wichtigeres Ziel erreicht. Zwar protestierte die Taliban-Führung pflichtgemäß, sie enthielt sich jedoch jeglicher Drohungen und ließ Verhandlungsbereitschaft erkennen. Dauerhaft kalkulierbar wird die Politik der Taliban damit nicht. Und ihr Extremismus hat nun eine Konfrontation mit dem Iran provoziert, die den USA in dieser Form sehr ungelegen kommt.

Denn das iranische Regime trommelt zwar zum Krieg, hält sich ansonsten aber merklich zurück - zweifellos hätten die USA in einer vergleichbaren Situation schon längst einen Krieg begonnen. Zudem können sich die iranischen Islamisten gegenüber der Barbarei der Taliban als gemäßigte Alternative darstellen. Im Grunde setzt das iranische Regime die Außenpolitik des Schahs mit anderen Bündnispartnern fort.

Der Iran soll stark genug sein, die Berücksichtigung seiner Interessen nötigenfalls erzwingen zu können. Da kann es nicht schaden, die iranische Militärmacht in der Praxis zu demonstrieren, und die Gelegenheit, einen "gerechten" Krieg zu führen, wird so schnell nicht wiederkommen. Nach der Ermordung iranischer Diplomaten und den Drohungen der Taliban, den Krieg in den Iran zu tragen, wäre eine Militärintervention rechtlich unanfechtbar. Das iranische Regime kann sich sogar als Hüter der Menschenrechte darstellen, wenn es für die schiitische Minderheit Partei ergreift.

Der Iran verlangt, beim Ölgeschäft in Mittelasien nicht übergangen zu werden und will den Taliban nicht die Alleinherrschaft über Afghanistan überlassen. Bisher hat die iranische Führung wenig Neigung zu militärischen Abenteuern gezeigt, möglicherweise wird sie ihre Ziele auch diesmal mit politischem Druck und indirekten Interventionen (Unterstützung der afghanischen "Nordallianz" gegen die Taliban, Bewaffnung von afghanischen Flüchtlingen) verfolgen.

Ein Krieg gegen die Taliban, der leicht zu einer Konfrontation mit Pakistan führen kann, könnte den Iran in der überwiegend sunnitisch geprägten islamischen Welt isolieren. Auch die von Teilen des Regimes angestrebte Öffnung zum Westen wäre gefährdet.

Ob es zum Krieg kommt, wird im Iran auch vom innenpolitischen Kräfteverhältnis abhängen. Ähnliches gilt für Pakistan, das sich bislang diplomatisch zurückhält und so tut, als hätte es nichts mit den Taliban zu tun. Ob die Regierung in Islamabad dem islamistischen Druck standhalten wird, wenn die Taliban in Bedrängnis geraten, ist eine andere Frage. Der Versuch der pakistanischen Oligarchie, politischen Stillstand und wirtschaftlichen Niedergang mit militaristischem Größenwahn und religiöser Demagogie zu kompensieren, hat das Land in eine existentielle Krise geführt. Eine Intervention zugunsten der Taliban würde es erleichtern, die Krise weiter auszusitzen und die islamistische Opposition einstweilen ruhigzustellen.

Auf längere Sicht jedoch würde der Islamismus weiter gestärkt und das Risiko wäre angesichts der guten indisch-iranischen Beziehungen hoch.