Holterdipolder

Deutsche Sozialdemokraten schauen neidisch auf das niederländische Arbeits- und Sozialmodell

Beim Blick über die Grenzen zum niederländischen Nachbarn schlagen sozialdemokratische Herzen höher: Dort wurde mit dem "Poldermodell" eine weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes durchgesetzt, ohne dabei mit der Brechstange vorzugehen. Endlich scheint eine europäische Antwort auf das neoliberale US-Modell gefunden.

Auf den ersten Blick ist die niederländische Bilanz in der Tat erstaunlich. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie sonst nirgendswo in Europa. Manche Branchen haben Schwierigkeiten, überhaupt Personal zu bekommen. In qualifizierten Berufen werden sogar Gastarbeiter aus Deutschland angeworben. Der Beschäftigungszuwachs von 36 Prozent in den letzten Jahren - gegenüber acht Prozent in Deutschland - ist europäische Spitze.

Wie kein anderes Land hat die sozialdemokratische Regierung von Premierminister Wim Kok eine Arbeitsumverteilung durchgesetzt. Kündigungsvorschriften wurden gelockert, die "24-Stunden-Ökonomie" eingeführt, die Zahl der Zeitarbeiter hat sich seit 1993 vervierfacht. Jeder dritte Beschäftigte arbeitet weniger als 35 Stunden pro Woche, bei Frauen ist der Anteil doppelt so hoch. "In naher Zukunft (...) wird es um flexible Arbeitsplätze gehen, um Kreativität und etwas Glück für jeden einzelnen", charakterisiert Kok die Beschäftigungspolitik seiner Partei der Arbeit (PvdA).

Mit dem Bekenntnis zur Deregulierung würde Kok sicher Beifall von seinem britischen Amtskollegen Tony Blair erhalten. Doch im Gegensatz zu Großbritannien werden die flexiblen Arbeitsformen sozial abgesichert. Statt "Hire and Fire" gilt das Trampolinmodell: Teilzeitjobs sind, inklusive Minimalbeschäftigung, in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen. Teilzeit- und Zeitarbeiter, deren Einkommen zeitweise unter das Mindestlohnniveau (rund 2 000 Mark im Monat) fallen, erhalten ergänzend Sozialhilfe. Seit kurzem können auch Leiharbeiter und Beschäftigte auf Kurzzeitbasis Versicherungsansprüche erwerben.

Der Ursprung des Modells liegt im "Akkord von Wassenaar" von 1982 begründet. Während einer tiefen Rezession verständigten sich der niederländische Gewerkschaftsbund FNV, Unternehmer und Regierung auf einen Kompromiß: Die FNV akzeptierte mäßige Lohnsteigerungen für die nächsten Jahre, die Unternehmer verpflichteten sich, mehr Teilzeitstellen anzubieten und die Arbeitszeit zu verkürzen. "Das Poldermodell paßt zum Zeitgeist. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der man den Arbeitgeber als Feind sieht", erklärt der FNV-Vorsitzende Lodewijk de Waal.

Anders als in Großbritannien, wo Margaret Thatcher fast zeitgleich die Gewerkschaften zerschlug, um einen ultra-liberalen Wirtschaftskurs durchzusetzen, schien der Umbau per "Dialog-Modell" zur "Dienstleistungsgesellschaft" ohne harte Konflikte möglich.

Aber nicht ohne drastische soziale Einschnitte. So bezog noch zu Beginn der achtziger Jahre fast jeder fünfte Berufs-tätige eine Berufsunfähigkeitsrente, der nahtlos die Pensionsberechtigung folgte - die niederländische Variante des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates.

Das Invaliden-Glück fand ein jähes Ende, als Wim Kok, damals Finanzminister, diese Leistung für unbezahlbar erklärte. Die Rente wurde zwar nicht abgeschafft, regelmäßige Untersuchungen sind aber seitdem obligatorisch. Die Zahl der Invaliden sank erheblich. Im Sommer diesen Jahres wurden die Arbeitslosen- und die Invalidenversicherung völlig privatisiert - mit deutlichen finanziellen Nachteilen für die Beschäftigten, wie das Forschungsinstitut Nyfer in Nijenrode kürzlich kritisierte.

Auch der wunderbare Job-Boom könnte sich als Bumerang erweisen. Rechnet man die Personen hinzu, die sich im Vorruhestand, in Beschäftigungsmaßnahmen oder einer "geringfügigen Arbeit" befinden, liegt die "verborgene Arbeitslosigkeit" höher als in Deutschland. Fast jeder zweite "Flexi-Arbeiter" ist weniger als zwölf Stunden in der Woche beschäftigt - selbst die OECD schätzt die reale Quote auf annähernd 20 Prozent. Das staatliche Centraal Bureau voor de Statistick (CBS) teilte kürzlich mit, daß mehr als eine Million Personen ständig nach einem Teilzeitjob suchen. Und der Arbeitsmarktexperte Robert Went, Ökonom an der Universität Amsterdam, geht davon aus, daß bis zu 60 Prozent der flexiblen Jobs bei der nächsten Rezession verschwinden könnten.

Doch auch aus anderen Gründen ist eine Übertragung des "Modells" fraglich. Im Vergleich zu Frankreich, Großbritannien und Deutschland ist der Anteil der traditionellen Industrie in den Niederlanden niedrig, die sozialen Folgekosten der flexiblen Dienstleistungsgesellschaft sind einfacher zu finanzieren.

Dafür könnte für die deutschen Sozis das Konsens-Modell zum Vorbild für ein "Bündnis für Arbeit" werden. "Wir brauchen keine Ideologen mehr, wir brauchen heute ehrliche Technokraten", sagt der Sozialdemokrat Klaas de Vries, ehemaliger Leiter der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion. Ein Aussage, die sicherlich von allen europäischen Sozialdemokraten unterschrieben werden könnte.