Death Day in Buffalo

In der US-kanadischen Grenzregion werden regelmäßig Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, angegriffen

Es scheint fast schon ein Ritual zu sein: Jedes Jahr zwischen Mitte Oktober und dem 11. November, dem kanadischen Veteranengedenktag, werden seit 1993 Ärzte attackiert, die Abtreibungen vornehmen. So auch in diesem Jahr. Am 23. Oktober wurde der Arzt Barnett Slepian in seiner Wohnung von einem Unbekannten erschossen. Wurden in den vergangenen fünf Jahren vier Ärzte an der US-kanadischen Grenze zum Teil schwer verletzt, ist mit Slepian dieses Mal in der Region zum ersten Mal ein Arzt zu Tode gekommen. Die Liste derer, die dem Terror der Abtreibungsgegner zum Opfer fallen, wird länger: Mit Barnett Slepian sind es nun sieben Personen in den letzten fünf Jahren.

Die meisten angeblich gemäßigten Abtreibungsgegner und "Pro Life"-Gruppen distanzieren sich von dieser Tat. Sie erklären, daß niemals mit solchen Mitteln gekämpft werden dürfe. Der Mord sei zu verurteilen, und man hoffe, den Schuldigen bald ausfindig zu machen. Und doch nutzt der Mord - trotz der vordergründigen Distanzierung - ihnen und ihren Zielen. Denn nur wenige Ärzte trauen sich mittlerweile noch, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen.

Fast zwei Drittel der Ärzte, die in den USA Abbrüche durchführen, sind über 65 Jahre alt. Sie praktizieren in diesem Alter weiter, weil es häufig keine Nachfolger gibt. Medizinstudenten - auch die, die Frauenarzt werden wollen - müssen Methoden zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht lernen; oft sind solche Kenntnisse nicht einmal als Wahlveranstaltung im Vorlesungsverzeichnis für Medizin zu finden. Und dort, wo sie noch gelehrt werden, ist das Interesse gering. Wer will schon lernen, was später das permanente Tragen einer schußsicheren Weste auf dem Weg zur Arbeit bedeuten kann?

Jede vierte Abtreibungsklinik in den USA hat inzwischen mit den Folgen der Anti-Abtreibungskampagnen zu tun. Mal sind es nur Telefonanrufe, bei denen Mitarbeitern mit dem Tod gedroht wird, mal sind es Bombenanschläge. Ende Oktober kam etwas Neues hinzu: Eine Substanz, die als Milzbranderreger gekennzeichnet war, wurde per Post an vier Kliniken geschickt.

Die Fragen, die nach der Ermordung von Barnett Slepian in vielen Zeitungen gestellt wurden, lauteten: "Warum hat man ihn nur in der Klinik und nicht auch zu Hause beschützt?" und "Warum nahm man die Drohungen nicht ernst?" Niemand stellt mehr in Frage, warum ein Arzt, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt, um sein Leben fürchten muß. Und die Abtreibungsgegner, die vor Kliniken oder vor Privatwohnungen von Ärzten demonstrieren, gewinnen so Akzeptanz als angeblich harmloser Mainstream.

Die Anti-Abtreibungsfront hat auch ihre parlamentarischen Vorkämpfer. Leute wie den republikanischen Unterhausabgeordneten Robert Dornan z.B. Der bezieht im Wahlkampf entschieden Stellung gegen den "Holocaust" - und meint damit die Schwangerschaftsabbrüche. Abtreibung ist in den Augen vieler Republikaner "der neue Holocaust", und dagegen sind ihrer Meinung nach extreme Maßnahmen nun einmal angebracht. Ärzte werden mit Massenmördern gleichgesetzt und so - in einem Land, wo die Todesstrafe von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt wird - implizit zum Abschuß freigegeben.

Für diejenigen, die diesen politisch irrsinnigen, aber hochbrisanten Vergleich ernstnehmen, sind die nötigen Informationen nur einen Mausklick entfernt. Abtreibungsgegner Neal Horsley beispielsweise ist Betreiber einer Website, die sich in Anlehnung an die Nürnberger Prozesse "Nuremburg Files" nennt. Obwohl auch Horsley vorgibt, Gewalt nicht zu unterstützen, finden sich auf seiner Website Namen, Adressen, Autobeschreibungen und Fotos von Ärzten, Helfern und Unterstützern sowie von deren Familien. Die Namen sind entweder in schwarz oder grau aufgeführt, oder sie sind durchgestrichen: Symbole für "aktiv", "verwundet" - oder tot. Horsley meint dazu in einem Interview: "Menschen, die ungerechtfertigt andere Menschen umbringen, werden die Folgen dafür tragen müssen - egal, was die Regierung sagt."

Zwar beteuern Republikaner und Anti-Abtreibungsaktivisten, daß sie mit solch offensichtlichen Aufrufen zur Gewalt nichts zu tun haben wollen. Aber vor allem die Republikaner stehen tief in der Schuld dieser neuen "Bewegung": Sie verdanken ihr viele Wähler und nicht wenige finanzkräftige Förderer. Die Mitglieder der "Pro Life"-Gruppen gehören meist der religiösen Rechten an, die innerhalb der Republikanischen Partei eine stärker werdende Strömung darstellt (Jungle World, Nr. 44/98). Im Gegenzug spricht ein Teil der Republikaner die Sprache, die verstanden wird: Abtreibung ist Mord, und das US-amerikanische Abtreibungsrecht steht für legalisierten "Holocaust".