Keine Alternative

Hat die Mahnmal-Debatte bereits geleistet, was das Mahnmal einmal leisten sollte?

Als der "Bund freier Bürger" am 23. September dieses Jahres sein antisemitisches Coming-out wagte und gegen das Holocaust-Mahnmal demonstrierte, waren zwar nur zwanzig bis dreißig Anhängerinnen und -Anhänger erschienen, aber sie wußten die Mehrheit der Deutschen hinter sich. Tendierte die öffentliche Meinung noch vor dem Sommer für die zügige Realisierung des Projekts, schlug dies kurz vor der Bundestagswahl in eine allgemeine Ablehnungshaltung um.

Spätestens, nachdem Michael Naumann sich gegen den Bau ausgesprochen hatte, setzte sich die Auffassung durch, mit der Debatte um das Mahnmal sei schon erledigt, was das Mahnmal einmal leisten sollte.

Seither werden Alternativen diskutiert - wie das Holocaust-Museum und das Archiv der Survivors of the Shoah-Foundation von Steven Spielberg. Gemeinsam ist beiden Projekten, daß hier konkretisiert werden soll, was das Denkmal abstrahieren würde. In dem didaktischen Bemühen, den Nachgeborenen einen "Zugang" zur Shoah zu ermöglichen, setzt Steven Spielberg auf die Unmittelbarkeit der Darstellung.

Mitarbeitende der Survivors of the Shoah-Foundation haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Interviews mit Überlebenden geführt und auf Video aufgezeichnet. Dieses heute sicherlich einmalige Archiv wurde zum Teil aus den Einnahmen des Films "Schindlers Liste" von Steven Spielberg finanziert. Der gleiche Widerspruch, der diesen Film so erfolgreich machte, läßt das Archiv zur Alternative zum Holocaust-Mahnmal werden.

Die gesellschaftliche Kontinuität der Volksgemeinschaft über den Nationalsozialismus hinaus hat ein Gedenken der Shoah verhindert, nur der Bruch mit dieser völkischen Struktur hätte Möglichkeiten zu einer anderen Auseinandersetzung eröffnet. Die Chance dazu wurde in fünfziger Jahren nicht genutzt. Statt dessen wurden mehr oder weniger sachliche Rituale erfunden: Keine Gedenkveranstaltung ohne Vortrag, keine Kranzniederlegung ohne lange Erklärungen - immer sah man sich in Deutschland gezwungen, sich für das Gedenken zu rechtfertigen.

Und hier liegt auch der Widerspruch: Wie kann man angesichts einer Gesellschaft, die über sich schweigt, einen Ort einrichten, an dem geschwiegen wird? Die Gegenfrage ist ebenfalls legitim: Ist nicht gerade das fortwährende Reden und Dokumentieren ein Mittel, den Schrecken zu rationalisieren? Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas diente so einer paradoxen Schlußstrich-Ideologie: Weil gezeigt werden soll, daß etwas abgeschlossen ist, erweist sich, daß es nicht abgeschlossen ist, weil es gezeigt werden soll.

In "Schindlers Liste" mußte Spielberg diesem Paradox Rechnung tragen, um über die Vernichtung einen publikumsfreundlichen Film machen zu können und die Geschichte einer Rettung erzählen. Die Geschichte der Ermordeten läßt sich nicht (so) erzählen. Die sozialverträgliche Darstellung des Holocaust handelt nur negativ von Toten. Wenn nun die Shoah-Foundation als Alternative zum Denkmal gehandelt wird, markiert dieser Vorgang einen Bruch mit der bisherigen Konzeption. Die Darstellung des Schicksals von Überlebenden in einem öffentlichen Video-Archiv ist etwas anderes als die Erinnerung an die Ermordeten; die Geretteten und die Verlorenen, schreibt Primo Levi, trennt der letzte Weg.

Die Zeugnisse der Überlebenden haben eine zentrale Bedeutung für eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus, aber sie ersetzen nicht die Erinnerung an die Toten. Das Video-Archiv als Mahnmal-Ersatz wäre immer in Gefahr, allein deshalb den Holocaust zu verharmlosen, weil die Ermordeten gar nicht mehr vorkommen.

Um die Frage jedoch, ob zum Beispiel der Entwurf von Richard Eisenman als zusätzliches Element das Video-Archiv von Spielberg aufnehmen könnte, wie von Michel Friedman vorgeschlagen, geht es gar nicht mehr, sondern um zwei verschiedene Konzeptionen der Erinnerung: Ein Video-Archiv ist längst nicht so herausfordernd und endgültig wie ein Mahnmal. Und auch ein Holocaust-Museum könnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Gedenken in Deutschland - außer bei Überlebenden und Angehörigen von Ermordeten - kaum einen Platz hat, außer wenn es politisch geboten scheint.

Auf der anderen Seite hat gerade die lange Geschichte der Instrumentalisierung der nationalsozialistischen Verbrechen für die eine oder andere gute Sache das Gedenken in Deutschland zu einer ambivalenten Angelegenheit gemacht. Jede Form des Gedenkens enthält die Gefahr einer Überidentifikation mit den Ermordeten, die eine Folge der gesellschaftlichen Verdrängung ist. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, auf einer rationalen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu bestehen.

Hier handelt es sich um Widersprüche, die unter den gegebenen Bedingungen paradox sind. Das zeigt sich sowohl in den ästhetischen oder kunstgewerblichen Bewältigungsversuchen der Wettbewerbsvorschläge für das Denkmal als auch in der politischen Diskussion um das Mahnmal, die zwei Ebenen hat: Zum einen wurde immer stärker kritisiert, daß das Mahnmal nicht allen Opfern des deutschen Faschismus gedenke. Julius Schoeps, der Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums an der Potsdamer Universität, hat sich vergangene Woche mit dieser Begründung gegen ein Holocaust-Mahnmal ausgesprochen: "Es geht nicht an, daß Nichtjuden den Juden ein Denkmal bauen." Nichtjüdische Deutsche müßten sich der deutschen Geschichte als Ganzes stellen und deswegen auch aller Opfer des Nationalsozialismus gedenken.

Zum anderen forderte eine der Debatte überdrüssige Öffentlichkeit, daß sich die Vertreter der Juden in Deutschland zum Holocaust-Mahnmal äußerten. Ignatz Bubis lehnte es lange Zeit ab, zum Holocaust-Mahnmal Stellung zu nehmen. Das sei die Angelegenheit der nichtjüdischen Deutschen, die Juden bräuchten kein Denkmal. Damit wurde deutlich, daß es hier tatsächlich darum ging, wie die Nachkommen der Täter und ihrer Unterstützer sich an die Opfer erinnerten: Entweder die Einbeziehung der Tat, und damit auch der Gesellschaft und ihrer Mitglieder, in diese Erinnerung, oder aber die Konzentration auf die jüdischen Opfer als solidarische Geste, wie es sich in den favorisierten Entwürfen ausdrückte. Auch hier: Mission impossible. In der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und subjektiven Voraussetzungen von Auschwitz darf es kein Schweigen geben; allerdings ist diese Auseinandersetzung nicht das gleiche wie das Gedenken an die Opfer.

Auch wenn die solidarische Geste beinahe zynisch erscheint, schließlich ist der Solidarität mit den Ermordeten keine Solidarität mit den Lebenden vorausgegangen, kann umgekehrt die Beschränkung auf eine rationale Auseinandersetzung dazu beitragen, die Opfer auszublenden und damit die Deutschen zu den eigentlichen Opfern zu machen.

Käme das Video-Archiv nach Berlin, wäre dies eine Anerkennung für die Überlebenden, gleichgültig, welche Einwände man sonst gegen das Projekt vorbringen kann. Eine Alternative zum Mahnmal aber kann es nicht sein.