Das Wespennest

61. Neue Bewirtschaftung

Fortgesetzte Erzählung

Ca. 22 Uhr 30, mal kurz über die Straße in die Alte Wettannahme, und nix Besonderes lag in der Luft, außer, daß Adriano ein Schild malte mit der Aufschrift: Neue Bewirtschaftung.

Modder achtete seiner nicht. Wir haben viel durchgemacht, unsere Generation, und ein Gespür dafür entwickelt, welche Gefahr droht, wenn ans Tor ein Schild gehängt wird mit der Aufschrift Neue Wirtschaft. Kaum waren wir eingeschult, begann der Zweite Weltkrieg, kaum war der Krieg bei uns vorbei, explodierten im Pazifik die Atombomben. Stellen Sie sich vor, was passiert wär', wenn die Japaner am 8. Mai '45 kapituliert hätten und nicht wir.

Also lautete die Weisheit einer Generation, die mit Metaphern groß wurde: Man soll die Katastrophen verdrängen, solange es geht, auch wenn sie das Wohnzimmer bedrohen.

In Modders Wohnzimmer war alles wie immer. Dr. Seignebos hielt Hof mit seinen geschiedenen Witwen, sprach von Philosophemen und Emphysemen, der Automechaniker aus den Rheingaragen und seine Geliebte sahen mal wieder doppelt so elegant aus wie Beau Brummell und Oscar Wilde, und Motze bediente mit den gepflegten Handbewegungen eines Oberkellners nach vierzig Dienstjahren.

Ja, Motze. Sagte ich nicht, daß Motze bei Kucki kellnert seit fast einem Jahr? Lange Geschichte das, warum in Hofacker jetzt ein Zweisterne-Gastronomiebetrieb floriert namens La Bonne Auberge, wo früher der Deutsche Kaiser war, und im Saal droben das Fitness-Center Body 2 000 mit Palmen und Karibik ganz gewöhnlich. Na, ein anderes Mal. Vielleicht im nächsten Roman.

Also Motze hat jetzt eine Figur wie Obelix, eine Frisur wie meiner Tante Lilo ihr Lampenschirm, den gleichen Pharisäerzinken wie vor 40 Jahren und ist Kellner bei Kucki, und Modder vergißt, was nicht zu ändern ist, zum Beispiel, daß Motze ursprünglich mal am ersten Pult der Westberliner Sinfoniker fiedeln wollte, und fragt bloß:

"Kucki nicht da?" - "Ist oben und packt." - "Kucki packt? Und Chris?" - "Ist bei Ernesti, sich verabschieden."

Das Schild, an dem Adriano arbeitete, bekam plötzlich einen schrecklich konkreten Sinn und auch im Lokal herrschte auf einmal eine merkwürdige Atmosphäre, als ob was passiert wäre, was sich nicht gehört. Was war hier los? War Adrianos Schild nicht nur eine seiner künstlerischen Launen, mit denen er die Südstadtschicksen unterhielt?

Und, Frage aller Fragen: Warum packte Kucki, und Chris war bei seinem Bruder Ernesti und sagte ihm "Stalinista" oder was linke Griechen sich so sagen statt "Good bye, Jonny"?

Modder kriegte ein Gefühl im Magen wie damals, als er vom Fahrrad fiel und Herrn Wurz direkt vor das mit Eisen beschlagene Hinterrad eines Ackerwagens voller Zuckerrüben, mindestens fünfzig Zentner schwer.

Er spürte, wie das Rad sich näherte, spürte, wie es seinen Brustkorb berührte, lag auf dem Bauch, zu spät, sich noch davonzurollen, und wußte, nur Sekunden trennten ihn davon, daß die eiserne Kufe seinen Brustkorb plattmachte und auch die Bestellungen, die Motze mit ungetrübter Routine entgegennahm, hatten so etwas Bedrückendes, wie man es in Kuckis Weinstube sonst nur erlebte, wenn die DDR einen ihrer unbegabten Klampfenspieler in den Westen rüberschickte oder die Westkommunisten noch mal Null Komma eins Prozent verloren und vor dem ersten negativen Wahlergebnis der Bonner Republik standen.

Womöglich, sagte sich Modder, war Ernestis Frau auch schon am Packen, obwohl ich mir das nicht vorstellen konnte, denn seine Kinder gingen in die katholische Grundschule gleich um die Ecke, aber vielleicht waren die Kinder auch seine Enkel. So genau weiß man das nicht bei den linken Griechen.

Warum packten auf einmal alle? Wollten sie etwa zurück auf den Isthmus, weil sich was ereignet hatte daheim in Griechenland, oder war nur der Sommer ausgebrochen und sie wollten in Urlaub fahren?

Nein, Sommerurlaub war keine gute Idee. Es war der 9. November, und da gibt's höchstens Gedenkfeiern. Modder ließ rasch alle Ereignisse durchlaufen, die was mit dem 9. 11. zu tun hatten: Kaiserproklamation anno '71 im Spiegelsaal von Versailles, Vertrag von Versailles im Walde von Compiègne anno '18, Marsch auf die Feldherrnhalle in München, Reichskristallnacht, Geburtstag seines Vaters etcetera.

Nix dabei. Das alles hatten Kucki und Chris bisher stets mit Geduld ertragen, und der Kölsche Karneval, den Kucki mindestens so haßte wie gepanschten Wein, begann erst in zwei Tagen.

Aber warum legte sie dann Modders Schicksal in fremde Hände, die sich hinter dem Pseudonym Neue Bewirtschaftung verbargen, wenn sich hinter ihrer Packerei nichts Weltbewegendes verbarg?

Er prüfte schweifend das Lokal, in dem die Stimmen nur so schwirrten und die Zettel an den Wänden mit Aufschriften wie Gutedel 0,2 Ltr. 6,50 und Elsässers Muscadet 0,2 Ltr. 4,80 im Sog des Miefquirlers um ihr Leben bangten, stand auf, verließ seinen angestammten Platz an der Theke, schlenderte betont lässig hinüber zum Stammtisch, wo sein Freund Sepp Edel seinen Gutedel schlürfte, mutterseelenallein. Wer sitzt schon gern am Stammtisch. Stammtische haben so etwas Deutsch-Nationales.

"Tach, Sepp, was gibt's Neues?" - "Hast du keine Nachrichten geguckt, Junge?" - "Was für Nachrichten?" - "Eine Sensation! In einer Stunde geht's los, meine Frau ist schon am Kofferpacken." - "Und wo soll's hingehn?" - "Zum Frühstück sind wir in Dresden."

Das war nun eine Information, die nicht sensationell war, und langsam verfluchte Modder seine Unsitte, im Kölner Stadtanzünder immer nur das Längerfristige zu lesen wie die Todesanzeigen und den Versuch der CDU, ihren Vorsitzenden abzusägen.

Edel, der ständig forderte, "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut", erwies sich als wenig hilfreich. Er hatte vor 25 Jahren mal einen Stuhl halbiert und den halben Stuhl an einen Spiegel gelehnt, so daß er wieder aussah wie ganz, und galt seither als genialer Konzeptkünstler und Innenausstatter. Leute wie Edel fuhren gestern nach Sydney, heute nach Osaka und morgen nach Dresden, wo überall noch durchgesägte Stühle gegen Spiegelwände gelehnt werden mußten.

"So", sagte Modder hochachtungsvoll, "nach Dresden. Wieso grade nach Dresden?" Und so ergab sich, daß ein Sprecher der DDR-Regierung soeben verkündet hatte, daß es zwischen den beiden deutschen Staaten keine Mauer mehr gebe und daß ab sofort jedermann reisen könne, wohin er wolle. Von Köln nach Dresden, und wenn einer Angst hatte, die Mauereröffnung könnte zu einer Welle deutschnationalen Jubels hochgejubelt werden, auch von Köln nach Griechenland.

Das war überhaupt das beste: Die Leute aus der Ostzone kehrten heim nach Deutschland und die linken Griechen nach Griechenland.

Modder haderte noch ein Weilchen mit seinem Schicksal - "Das können sie doch nicht machen! Die können doch nicht einfach die Mauer aufmachen! Wissen die nicht, daß das das Ende des Sozialismus ist?" -, mußte aber klein beigeben. Die normative Kraft des Faktischen war stärker, und Edel triumphierte.

Den Rest des Abends verbrachte er griesgrämig in der Ecke hinterm Kachelofen und trank Topinambur, den Kucki direkt beim Erzeuger kaufte, und wußte nur eins: Jetzt ist alles aus. Jetzt wird die deutsche Geschichte noch einmal geschrieben. Von heute an stimmt nichts mehr, was einmal gestimmt hat. Wir fangen noch mal da an, wo wir im Januar 1933 aufgehört haben. Was dazwischen war, wird ausgelöscht wie eine schlechte Fotokopie. Die Deutschen haben ihre Unschuld wieder.

Und er wußte, auch der Roman, an dem er seit ein paar Jahren schrieb, wenn er mal nicht schlafen konnte, stimmte nicht mehr. Er mußte noch einmal von vorne anfangen, weil es nie ein Drittes Reich, nie einen verlorenen Krieg, nie einen Holocaust und nie eine Restauration gegeben hatte.

Später kam Kucki runter. "Ihr wollt verreisen? Du würdest packen?" - "Ach, Quatsch, ich habe nur ein bißchen aufgeräumt." - "Und das Schild?" - "Ach das. Du kennst doch Adriano. Er wollte nur andeuten, daß die im Osten bald eine neue Regierung haben."

Da war Modder doch ein bißchen erleichtert.

(Nächste Woche: "Also noch mal von vorne")