64. Zettels Traum

Fortgesetzte Erzählungen

Ein alter Schuhkarton stand auf meinem Tischlein, ein Grappinchen neben dem Wasserglas, und ich sortierte Zettelchen, wie ich es mein ganzes kleines Leben lang getan haben werde.

Neben dem Lokal hatten drei Zivilfahnder ein Mädchen aufgegriffen. Niemand schrie, kein Gerangel, und auch Waffen waren keine im Spiel. Trotzdem, ich haßte diese Demonstrationen polizeilicher Präsenz, bei denen nichts rüberkam als drei Briefchen mieses Heroin, also wandte ich mich wieder meinen Zettelchen zu.

"Schadenfrohes Wiedersehen mit Truschka in Manaus", las ich. "Sie liegt auf einem Feldbett in einem kahlen, rosa gestrichenen Zimmer, nur mit einem Hemdchen bekleidet und empfängt am Tag 25 Freier."

O, lieber Herr Modjewski, was hast du dir dabei gedacht?

"Unter dem Vordach sitzt Big Bill im durchgeschwitzten Unterhemd, unrasiert, teilt die Handtücher aus und kassiert das Laufende. Zwischendurch nimmt er einen Schluck Mescal aus der Flasche."

Das war natürlich eine Notiz für den Roman, mit dem ich mir den Frust über die Frauen vom Leib schreiben wollte, die mir immer Hörner aufsetzten. Am schlimmsten war der Jahrgang '47. Die klammerten sich an jeden Halbaffen und bildeten sich dabei noch ein, emanzipiert zu sein, was daran lag, daß die 47er die 68er waren.

Ich drehte den Zettel um. Die Notiz stand auf der Rückseite einer Kneipenrechnung aus Rom. Da Mazzini, Viale Goffredo Mameli, datiert 14-6-1973. War das nicht dein 40. Geburtstag, Modjewski? Das Jahr, in dem du mit den Roten Brigaden Kontakt aufnehmen solltest, und weil du keine finden konntest, mit diesem fetten häßlichen Schriftsteller aus Köln eine halbe Nacht lang durch Trastevere gelaufen bist? So ein mieser, selbstgefälliger Faschist und Frauenhasser, der am liebsten die ganze Menschheit ausgerottet hätte und zu blöd war, über die Straße zu gehn?

Köln ist eine schöne Stadt. Geeignet zum Sortieren der Zettel, die in einem alten Schuhkarton liegen. Köln ist das Neapel des Nordens. Das Wohnzimmer ist die Stammkneipe. Wenn jemand dich sucht, ein Mandant zum Beispiel, der beim Entrümpeln entdeckt, daß sein Großvater mal ein Grundstück in Prenzlau in der Uckermark hatte, so braucht er bloß einen Streifzug durch die umliegenden Lokale zu machen und die Gäste zu fragen.

Aber warum ausgerechnet eine öde Stadt am Rio Negro? Vielleicht wegen M‡rquez, Hundert Jahre Einsamkeit. In meiner Erinnerung ist das Buch eine Art Heimatroman, der zwar nicht in Nordhessen spielt, wie die Geschichten, in denen ich vorkomme, sondern irgendwo in Südamerika. Diese Ungewißheit macht die Geschichte so reizvoll: Die Reise ins Ungewisse ist ein erotisches Abenteuer. Man weiß nie, wohin es geht, und wer die Mitreisenden sind.

Ich sitze also vorm Mattogrosso, betrachte eine alte Gaststättenrechnung, und wie ich hochgucke, steht an meinem Tisch das Mädchen, das die Zivilfahnder aufgegriffen haben, nimmt die Sonnenbrille, die so groß ist wie ein Klosettdeckel, aus dem Gesicht und sagt: "Darf ich mich zu Ihnen setzen?"

Ich nicke und betrachte eine Brötchentüte aus Amsterdam, auf der sich die Notiz befindet: "Liebesnächte am Leidseplein", und das Mädchen setzt die Sonnenbrille wieder auf und nimmt Platz.

Edle Klamotten, denk' ich, bis auf das T-Shirt, das paßt irgendwie nicht zu ihr, wahrscheinlich Modell oder Diskjockey oder die neue Braut von Wolfgang Niedecken, der angeblich gleich um die Ecke wohnt. Sie schnieft und wischt sich übern Mund und sagt: "Laden Sie mich zu einem Kaffee ein?" Sie hat eine rauhe, einschmeichelnde Stimme und erinnert mich an meine Tochter Hedda, die wir Schredda nannten, weil sie im Krabbelalter alles schredderte, was ihr in die Finger kam.

Auf dem neuen Zettel steht: "Die Gewalt ereignet sich immer ganz unerwartet."

"Aber klar doch", sage ich und schnippe mit den Fingern und gebe meine Bestellung auf. "Wie heißen Sie?" - "Nora", sagt sie, "nennen Sie mich einfach Nora." - "Nora, und weiter?" - "Nur Nora. Und Sie?" - "Modjewski, nennen Sie mich einfach Modjewski." Sie sagt: "O.k., Herr Modjewski, würden Sie das für mich einstecken, damit es nicht verloren geht?" Sie legt die Hand auf den Tisch, und ich lege meine Hand auf ihre Hand, als wollten wir uns zärtlich berühren.

Sie wartet einen Augenblick, bevor sie die Hand wieder wegzieht, und sieht mir tief in die Augen, so daß ich sehe, sie hat dunkelbraune Augen, in denen ein unersättliches Verlangen schlummert und lange seidige Wimpern, an denen eine Träne hängen wird, wenn ihr Verlangen nicht gestillt wird, und eine obszöne Blässe, und wie sie die Hand wegzieht, und die Zigaretten rausholt und mit ihrer tiefen, singenden Stimme fragt: "Haben Sie mal Feuer?" spüre ich einen flachen Gegenstand unter meiner Hand, der sich anfühlt wie ein Präservativ in Alufolie, aber ich schaue nicht hin.

Ich hebe nur meine Hand, schiebe sie in die rechte Jackentasche, hole ein Feuerzeug raus und gebe ihr Feuer. Sie lächelt mich an und sagt, so daß jeder es hören könnte: "Wenn Sie wollen, können wir zu Ihnen gehen, Herr Modjewski. Wenn Sie fertig sind mit Ihrer Zettelei."

"Und die da?" frage ich und deute auf die Zivilfahnder, die es sich auf dem Mittelstreifen bequem gemacht haben. Die Frau, die sich Nora nennt, ist höchstens dreißig und ich könnte wirklich ihr Vater sein, aber was soll der Quatsch.

Mein ältester Sohn schreibt mir zu Weihnachten eine Postkarte, der zweitälteste hält mich für einen jüdisch-bolschewistischen Volksverräter, und von meiner Tochter Schredda habe ich seit zehn Jahren nichts gehört. Sie soll einen walisischen Lastwagenfahrer geheiratet haben und nach Tasmanien ausgewandert sein. Wie kann man da von Inzest reden.

"Ach, die da", sagte Nora. "Die wissen selber nicht, was sie wollen."

Dann stehen wir auf, und sie schlingert neben mir her in ihren hippen Markenklamotten, und ich sehe, daß sie hochhackige Pumps anhat, in denen sie kaum laufen kann, sage aber nichts, weil ich weiß, die jungen Frauen haben es nicht gerne, wenn man Bemerkungen über sie macht. Die sind cooler als James Dean in seiner letzten Sekunde und Mitleid mögen die schon gar nicht.

Hinterm Ring gehen wir noch rasch zum Stüssgen Zigaretten und Bourbon kaufen, und das ist der Grund, warum die Kassiererin Madi Czybulski der letzte Mensch ist, der mich lebend zu Gesicht bekommen hat.

Der Schlag kommt so unerwartet wie immer und trifft mich auf der rechten Schulter, aber ich spüre ihn erst, als meine Zettel aus dem Schuhkarton hochwirbeln und wie Schnee zu Boden gleiten. Es ist immer ein bißchen düster am Hinterausgang des Supermarkts mit ein paar Stufen zum Hof hinunter, aber ich bin etwas benommen und weiß nicht mehr, wo der Schlag mich erwischt hat, oben auf der Laderampe oder schon unten, als der zweite Schlag meine Schulter trifft, dann der dritte, und das Mädchen schreit: "Sag mal, spinnst du, Captain?"

Sie schreit so laut, daß ihr Schrei das Brechen und Knacken meiner Knochen übertönt, aber dann höre ich es wieder, fast im gleichen Moment, als einer der Zivilfahnder vor mir auftaucht und eine Keule, die aussieht wie ein Baseballschläger auf meiner rechten Schulter landet, und ich spüre wie die Knochen knacken und brechen, und einen Moment lang sehe ich auch die beiden anderen Zivilfahnder.

Sie beugen sich über mich, wühlen in meinen Taschen und lassen mich wieder auf den Asphalt fallen, und zugleich ertönt ein Schrei so schrill und langgezogen, daß er den Schmerz übertönt, der in meiner Schulter wütet, und als der Schrei nachläßt, läßt auch der Schmerz nach, und von oben, wo die fensterlosen Backsteinwände der Hinterhäuser ein Stück Himmel ausschneiden, senkt sich eine unheimliche Stille herab, und ich weiß, daß ich jetzt sterben muß.

Mein Kopf wird angehoben und etwas wird unter meinen Kopf geschoben. Eine Stimme flüstert unter Tränen: "Mein Liebster, Liebster, das habe ich nicht gewollt." Und ich wünsche mir, daß es das Mädchen ist, das meinen Kopf, der nichts mehr denken kann, aufhebt und in seinen Schoß bettet und mit sanften Fingern die Haare aus meiner Stirn streicht.

Ich liege in ihrem Schoß auf dem dreckigen Ladehof neben der Rampe hinterm Stüssgen, um uns herum stehen viele Leute, auch Madi Czybulski mit schrecklichen Augen und Mündern und abstehenden Haaren, und da steht Quasimodo mit seinem dreibeinigen Hund, da steht Manni Füller, hebt den Daumen und kneift ein Auge zu, und auf einmal weiß ich auch, wer das Mädchen ist. Es ist Hedda meine Tochter, die wir Schredda nannten, weil sie immer alles zerfledderte, was ihr in die Finger fiel.

Der Weg zum Licht ist weit, und eine Zeitlang denke ich, das schaffst du nicht, das ist ja noch ewig bis da hinten, aber dann schaffe ich es doch, und es wird kalt und kälter. Ich falle ins Nichts des Lichts. Ob ich wirklich tot bin, muß ich mir noch überlegen.

(Nächste Woche: "Das Nichts des Lichts")