Autopoiesis des Boxsports

Seit achtzig Jahren gibt es Profiboxen in Deutschland, und so lange schon zählt man nur auf sich selbst

Axel Schulz, so erklärte sein Management in der letzten Woche, denke morgens an Tyson, mittags an Tyson, abends an Tyson und kurz vor dem Einschlafen auch an Mike Tyson. Das soll wohl nach Meinung der Betreuer des gegenwärtig populärsten deutschen Schwergewichtsboxers professionell wirken. Die zunehmend uninteressierte Öffentlichkeit soll den Eindruck erhalten, "der weiche Riese" (Sport-Bild) habe sich bei Vorbereitung auf seinen eventuell Anfang nächsten Jahres stattfindenden Kampf gegen den Ex-Weltmeister Mike Tyson so etwas wie Biß antrainiert, und mit ihm besitze das deutsche Profiboxen, das erst vor achtzig Jahren im Gefolge der Novemberrevolution 1918 legalisiert wurde, tatsächlich einen Stellenwert in der Welt. So liest man es allerdings nur hier.

Ein Axel Schulz ist in den US-Medien überhaupt kein Thema, und selbst Mike Tyson, den man hierzulande immer noch für die Inkarnation des Schwergewichtsboxens hält, hat bei den vielfältigen US-Bemühungen, das Profiboxen weiterhin als ernstzunehmende Sportart oben zu halten, keine besondere Bedeutung. Tyson geht es nämlich wie Axel Schulz. Beide hatten mehrmals die Chance, sich oben zu bewähren und haben sie nicht genutzt: Mike Tyson verlor gegen Evander Holyfield einmal durch K.o., einmal durch Disqualifikation, weil er ihm ein Stück Ohr wegbiß. In beiden Kämpfen war er unfähig, sich auf einen Gegner einzustellen, der keine Angst vor ihm hatte, und nun hat niemand mehr Angst vor ihm.

Axel Schulz hätte nach seiner Foreman- Niederlage 1995 gegen Fran ç ois Botha und gegen Michael Moorer beweisen müssen, daß er ein guter Boxer ist, doch er verlor beide Kämpfe, weil er unfähig war, selbst den Kampf zu machen, und nun hält ihn keiner mehr für einen Klasseboxer. In den USA hat Axel Schulz noch nie einen Namen besessen, und Mike Tyson hat in den USA nicht mehr den Ruf des unschlagbaren Klasseboxers. Hier spielen sportliche Betrachtungen eine größere Rolle, und folglich orientiert man sich auf den 13. März 1999, wenn Evander Holyfield und Lennox Lewis um den Titel des "undisputed heavyweight champion of the world" kämpfen, des unumstrittenen Weltmeisters eben.

Bemüht man sich also in den USA, das Verbände-Chaos im Weltboxen zu sortieren, so wendet man hierzulande, kaum liegt Niklas Luhmann unter der Erde, die Systemtheorie ausgerechnet im Berufsboxen praktisch an. Es hat sich in den letzten Jahren nämlich ein eigenständiges deutsches Profiboxsystem entwickelt: Prominentester Repräsentant war Henry Maske, der sich weigerte, seinen Halbschwergewichtstitel, der ihn zum Weltmeister machte, irgendwoanders auf dieser Welt außer in Deutschland zu verteidigen, und als er nach Graciano Rocchigiani zum zweiten Mal auf einen Klasseboxer traf, auf Virgil Hill nämlich, prompt Kampf und Titel verlor.

Derzeit erfolgreichste Repräsentanten des deutschen Systems, das sich fälschlich als Weltsystem ausgibt, sind die Klitschko-Brüder Vladimir und Vitali. Sie gelten wegen ihrer schier unglaublichen Siegesserie als echte Klasseboxer, bedienen sich aber im Grunde des Tricks eines geschönten Kampfrekords, denn Klassegegner hatten die beiden Ukrainer, die in Hamburg trainieren, noch nie. Auch sehr erfolgreich in diesem System ist der gegenwärtig einzige deutsche Profiboxweltmeister, Sven Ottke (zur Zeit Köln). Er gewann Ende Oktober in Düsseldorf den Titel im SuperMittelgewicht des Verbandes IBF, der schon Maske den Titel verlieh.

Auch Ottke und die Klitschko-Brüder sind in den USA beinah völlig unbekannt, was um so bemerkenswerter ist, weil US-Promoter immer auf der Suche nach der "great white hope" sind, nach einem weißen Boxer, möglichst im Schwergewicht, der die schwarze Dominanz beenden könnte. Seit Gerry Cooneys Niederlage 1982 gegen Larry Holmes gab es keine ernsthafte weiße Hoffnung mehr, und die zwei Ukrainer könnten diesen Markt bedienen, wenn man ihnen denn in den USA zutraute, wirklich gut boxen zu können.

Das freilich tut niemand. Das Besondere der gegenwärtigen Situation in Deutschland ist aber nicht, daß man Boxer zur Weltklasse zählt, die einfach nicht in diese Kategorie zählen - die Überschätzung germanischer Recken fing schon mit Franz Diener und Max Schmeling in den zwanziger und dreißiger Jahren an -, sondern bemerkenswert ist, daß man sich damit arrangiert hat, ein selbstreferentielles System zu bilden. Das Weltboxen wird von anderen repräsentiert, und in Deutschland macht man keine Anstalten, dorthin gelangen zu wollen.

Der letzte, der es versucht hatte, war der Berliner Graciano Rocchigiani, der im März dieses Jahres Michael Nunn schlug, sich WBC-Weltmeister im Halbschwergewicht nennen durfte, aber von der WBC diesen Titel zunächst in Interims-Weltmeister umgewidmet und später aberkannt bekam, weil der Weltverband lieber Roy Jones Jr., der in den USA den Ruf des Superstars und besten gegenwärtigen Boxers genießt, vergeben möchte, der ihn schon einmal niedergelegt hatte. Rocchigiani ist derzeit der einzige deutsche Profiboxer, der eine solche Abkopplung von der internationalen Entwicklung des Boxens für sich nicht akzeptiert, und so hat er auch Probleme.

Eine Ankopplung des deutschen Boxens an die internationale Entwicklung fand faktisch nur einmal in der Geschichte statt, nämlich in den Zwanzigern und frühen Dreißigern. Da mußten Boxer wie Franz Diener und Max Schmeling ihre Deutsche-Meister-Titel abgeben, wenn sie richtige Karriere machen wollten, also in die USA zum Trainieren und Kämpfen gingen. Und Boxer wie Paul Samson-Körner, der aus den USA zurückkam, beherrschten die Ringe. Diese Orientierung auf die USA und das dortige Boxniveau gipfelte in Schmelings WM-Titel 1930.

Dem Boom folgte aber schnell die Krise in den dreißiger Jahren, deren deutlichster Ausdruck Schmelings K.o.-Niederlage gegen Joe Louis 1938 war. Nach 1945 verdrängte eine neue Generation von Kämpfern die Alten um Max Schmeling. Und wie im Übergang von den zwanziger zu den dreißiger Jahren war es nicht einer der typischen Boom-Phasen-Boxer, damals Hans Breitensträter, Paul Samson-Körner oder Franz Diener, später Heinz Neuhaus, Peter Müller oder Hein ten Hoff, der den Lorbeer erntete, sondern ein Junger, damals Schmeling, später Bubi Scholz.

Bubi Scholz, der Europameister wurde, war der Nachkriegsstar, der wichtigste Boxer der fünfziger Jahre. Weltmeister wurde aber auch er nie: 1962 verlor er gegen Harold Johnson aus den USA. Nach Scholz, dem Repräsentanten des Wirtschaftswunders, ging es mit dem deutschen Boxen wieder bergab, woran auch der Kampf von Karl Mildenberger gegen Muhammad Ali (damals noch Cassius Clay) nichts änderte.

Am weltweiten Boxboom, der sich vor allem in den großen Kämpfen von Ali gegen Frazier und Foreman ausdrückte, partizipierte das deutsche Boxen nicht. Hier kamen so schillernde Personen wie Norbert Grupe, der sich "Prinz von Homburg" nannte, auf oder so wackere, aber kaum charismatische Boxer wie Jürgen Blin, der 1971 in Zürich gegen Ali boxte oder Eckhard Dagge, der 1976 sogar als zweiter Deutscher nach Schmeling einen WM-Titel holte. Aber auch solche Erfolge lockten die Zuschauer nicht an, auf die Krise folgte in den achtziger Jahren die Stabilisierung auf Krisenniveau.

Kämpfer wie Charly Graf und Reiner Hartmann bestimmten die Szenerie, obwohl sie international nicht mithalten konnten. Sportlich betrachtet, brachte das deutsche Berufsboxen gerade zwei Talente hervor, die beiden Rocchigiani-Brüder, von denen der trainingsfleißigere, Graciano, 1988 auch prompt Weltmeister wurde.

Und dann kam Henry Maske, das Symbol der Wiedervereinigung. Zusammen mit seinen Kollegen aus Frankfurt/O., Axel Schulz, den May-Brüdern, und seinem Trainer Manfred Wolke erlangte er mit einer deutlich von den Amateuren geprägten Boxtechnik die Hegemonie. Und dies ist eine Vorherrschaft, die er einerseits dem TV-Sender RTL verdankte, die andererseits aber auch dem Umstand geschuldet war, daß es gelang, aus Henry Maske einen Weltmeister für Deutschland, also einen Deutschen Meister mit WM-Gürtel, zu machen.

Vor dem Hintergrund dieses etablierten Systems baute das Sauerland-Management mit Maskes Trainingspartner Axel Schulz einen Schwergewichtler auf. Mit seinem Kampf gegen George Foreman 1995, der mit seinen damals 45 Jahren nicht das Weltklasseboxen repräsentierte, sondern den an den Deutschen vorbeigegangenen Boxboom der siebziger Jahre, sollte Schulz mit etwas, das man in den Sozialwissenschaften eine "nachholende Entwicklung" nennt, die Deutschen wieder nach vorn bringen. Das gelang bekanntlich nicht, und nun soll Axel Schulz gegen Mike Tyson boxen, der in den USA auch schon abgehalftert ist, aber immerhin das Schwergewichtsboxen der achtziger Jahre vertritt.

Wie niedrig Tysons Marktwert mittlerweile ist, merkt man daran, daß er wohl gegen einen wie Schulz boxen muß. Wenn Schulz gegen Tyson verliert, wofür trotz der Schwäche Tysons sportlich gesehen fast alles spricht, ändert sich am deutschen Boxsystem nichts. Sollte Schulz aber wider Erwarten gewinnen, dann wäre Mike Tyson bloß Deutscher geworden, eingetreten in das deutsche Boxsystem, das man hierzulande für ein Weltsystem hält.