Feeling Bieberer Berg

Kickers Offenbach könnte, wenn der DFB nicht bald etwas unternimmt, demnächst in der 2. Liga spielen

Verglichen mit anderen größeren Städten im Rhein-Main-Gebiet gilt Offenbach als besonders häßlich. Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden wird dagegen vom Flair eines ehemals adeligen Kurortes getragen, den die Neureichen in Besitz genommen haben, und in Frankfurt verströmen, gemessen am Selbstverständnis der mainaufwärts lebenden Nachbarn, selbst die ärmeren Bewohner der innerstädtischen Viertel noch den Hautgout des aufgeklärten Citoyen.

Und Offenbach? An der S-Bahn-Haltestelle Marktplatz, dem in Beton gegossenen Zentrum der Stadt, spannen sich Fußgängerbrücken schwerfällig von einer Billigfassade zur anderen. Marktstände sucht man dort an allen Tagen vergeblich, und so liegt weniger der Geruch leckerer Bratwürste als der von vertrocknetem Urin in der Luft. Die beste Adresse im grausligen Rund ist ein zweistöckiger McDonald's, der es in puncto Charme durchaus mit dem an seiner Flanke klebenden Drogeriemarkt aufnehmen kann. Daß Frankfurter Szenegrößen ausgerechnet hier einen Club eröffnen wollen, läßt sich wohl nur mit ihrer Vorliebe für trashige Locations erklären.

Allein aus diesem Blickwinkel ergibt auch die Aktion des Offenbacher Fußballfanclubs "Traktorenfront", den südöstlichen Ausgang der abgefahrenen Piazza auf den Namen "Erwin-Kostedde-Platz" zu taufen, einen Sinn. Steht doch der ehemalige Kickers-Goalgetter wie sonst höchstens noch Stan Libuda für den von allerlei Mythen umflorten Abstieg eines Fußballstars zur tragischen Person: Sinnbild der anderen, vermeintlich ehrlicheren Seite des Fußballgeschäfts.

Inzwischen hat die Stadtverwaltung das illegale Straßenschild entfernen lassen, aber trotzdem bleibt Erwin, zumindest unter den Fans der Offenbacher Kickers, in aller Munde. Das gleichnamige Fußballfanzine, von dem gerade die 26. Nummer zum Verkauf ausliegt, bringt pro Ausgabe dreieinhalbtausend Hefte unter die Leute und zählt neben Comeback (Fortuna Düsseldorf), Übersteiger (St. Pauli), Vfoul (VfL Bochum) und Schalke Unser zu den Topblättern des Genres. Und das, obwohl die Kickers in einer ganz anderen Liga spielen.

Der bald hundertjährige Offenbacher Fußballclub, ein Traditionsverein vom Schlage der Münchner Löwen oder des FC Schalke 04 und wie diese regelmäßig für den einen oder anderen Skandal gut, steht derzeit an der Spitze der Regionalliga Süd, nachdem die Kickers vor anderthalb Jahren noch gegen viertklassige Gegner um Punkte kämpfen mußten. Doch die Fans hielten auch in deprimierendsten Oberligazeiten ihrem Verein zu Tausenden die Treue. Das brachte z.B. den Dorfverein SV Bernbach so in die Bredouille, daß er im Mai 1997 sein Heimspiel gegen den OFC nach Hanau verlegen mußte; drei- bis viertausend Offenbacher hatten sich angekündigt.

Zu Spitzenbegegnungen der Regionalliga Süd pilgern schon mal zwanzigtausend Leute auf den Bieberer Berg. Auf der Stehtribüne an der Gegengeraden geht dann der Punk ab. Vom Fußballwahn berauschte, teils aberwitzig wirkende Leute schreien, begleitet von einem schrägen Trommelrhythmus, ihr "Kickers! Kickers!", zünden eine Bengalofackel nach der anderen und verfolgen im Schein der roten Leuchtfeuer mit den glühenden Augen junger Angorahasen, wie die Rauchwolken gleich ihren Anfeuerungsrufen über das Spielfeld wallen. Am Bieberer Berg stehen die Fans im wahrsten Sinne des Wortes hinter ihrer Mannschaft, so eng ist in diesem waschechten Fußballstadion ohne Laufbahn oder ähnlichem Schnickschnack der Kontakt zwischen Spielern und Publikum.

Ein wenig muß man um diesen fröhlich abgedrehten Zinnober schon fürchten, sollten die Kickers tatsächlich, wie von allen sehnsüchtig erwartet, den Aufstieg packen. Im bezahlten Fußball ist das Abbrennen bengalischer Feuer bekanntlich verboten. Immerhin wäre es nicht das erste Mal, daß der DFB den Offenbacher Kickers in die Suppe spuckt. Schenkt man den Kickers-Fans Glauben, betreibt die Frankfurter Fußballzentrale schon seit Jahrzehnten eine gemeine Verschwörung gegen ihren Club.

Die den Kickers-Mythos wesentlich nährende Betrugsstory begann Anno '59, als der OFC im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft auf den Erzrivalen Eintracht Frankfurt traf und nach Verlängerung mit 3:5 unterlag. Entscheidend für die Niederlage, das hat bis heute keiner am Bieberer Berg vergessen, war ein umstrittener Elfer für die Eintracht. Die Demütigungen setzten sich vier Jahre später beim Start der Bundesliga fort. Trotz sportlicher Qualifikation wurde der "Härtefall" Kickers nicht zugelassen. Damaliger DFB-Spielausschußvorsitzender: Rudi Gramlich, Präsident von Eintracht Frankfurt. Seine Begründung: "Das Rhein-Main-Gebiet braucht nur einen Bundesligaverein."

Daß Kickers-Präsident Canellas nach dem ersten Abstieg 1969 - ein Jahr zuvor war der Club endlich doch in der Bundesliga angekommen - ein Satz genügte, um die erneuten Aufstiegsambitionen der Kickers zu begründen, erübrigt sich beinahe zu erwähnen. "Die Eintracht darf nicht besser stehen als wir!" hieß die Losung damals wie heute.

1971 ging eben jener Canellas in die Annalen des Fußballs ein. Am 6. Juni feierte der auf dem Frankfurter Großmarkt als "Bananenkönig" bekannte Südfrüchtehändler seinen 50. Geburtstag und durfte neben einer größeren Anzahl Journalisten auch Helmut Schön in seinem Haus begrüßen. Unterstützt von Tonbandaufnahmen, die er während seiner Telefonate mit den Spielern Manglitz, Patzke und Wild angefertigt hatte, dokumentierte Canellas seinen Gästen, daß in der Bundesligasaison 1970/71 Spiele verschoben wurden. Der Bundesligaskandal begann. Doch obwohl Canellas vom DFB-Mann Horst Schmidt die Auskunft erhalten hatte, Siegprämien aus dritter Hand seien laut Verbandsstatuten nicht verboten, und wiederholt glaubhaft zu machen suchte, die Deals mit Manglitz & Co. habe er nur eingefädelt, damit diese Schiebereien endlich bekannt wurden, entzog der DFB zur Strafe Kickers Offenbach die Lizenz. Canellas wurde seines Amtes enthoben und zur Persona non grata erklärt, eine Entscheidung, die wiederum Rudi Gramlich maßgeblich beeinflußt haben soll.

Ein Jahr nach dem größten Triumph in der Vereinsgeschichte, dem Gewinn des DFB-Pokals, schienen die Offenbacher Kickers endgültig erledigt. Doch sie kamen wieder, glanzvoller denn je, die Eintracht-Fans mochten giften wie sie wollten. "Impotent und arbeitsschwach, das sind die Fans von Offenbach!", "Zwölf Schwule und ein Nigger, das sind die Offenbacher Kicker!" - nichts schien die Mannschaft um Siggi Held und Erwin Kostedde zu stoppen. Die Bayern wurden mit 6:0 vom Platz gefegt, die Frankfurter mit 3:2 besiegt, und unter einem jungen Trainer namens Otto Rehhagel stand der OFC 1974 gar für kurze Zeit auf Platz eins der Bundesliga.

Die Phase der Kickers-Glückseligkeit endete jedoch zwei Jahre später mit dem dritten Abstieg. Seither bewegt sich der Verein zwischen Erst- und Viertklassigkeit, Lizenzentzug und finanzieller Konsolidierung hin und her, verläuft das Schicksal des OFC fast parallel zu demjenigen seines ehemaligen Stars Kostedde. Auch dem ersten Afrodeutschen im Dreß der Nationalmannschaft ist, wie eine aktuelle WDR-Dokumentation zeigt, fast nichts erspart geblieben in seinem Leben.

Doch es geschehen immer noch Wunder auf dieser Fußballwelt: Einmal, ein einziges Mal hielt der Fußballgott seine schützende Hand über den Bieberer Berg. Als die Kickers 1997 im entscheidenden Spiel um den Regionalliga-Aufstieg gegen den FC Memmingen kurz vor Schluß das 2:3 hinnehmen mußten und 10 000 mitgereiste OFC-Fans der Verzweiflung nahe waren, fiel das Flutlicht aus. Der DFB entschied aller Gewohnheit zum Trotz auf Wiederholungsspiel, Offenbach siegte 2:0 und stieg auf.

Wer weiß, vielleicht lag es ja am neuen Manager der Kickers, Klaus Gerster, dem als ehemals "schwarzen Abt" von Eintracht Frankfurt beste Kontakte zu Gott und der Welt attestiert werden. Oder war es, wie die Erwin-Redakteure Bernd Giring und Volker Goll behaupten, "die Kraft der 10 000 Herzen", die das Flutlicht und den DFB in die Knie zwangen? Egal, jedenfalls wären die Kickers ohne ihre Fans ein stinknormaler und scheißlangweiliger Regionalligaverein. Das hat mittlerweile auch die PR-Abteilung des Clubs entdeckt und redet bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nur noch vom "Feeling Bieberer Berg".

Bis auf weiteres soll es aber doch nur beim Gefühl bleiben. Als bei der Jahreshauptversammlung am 2. Dezember der von allen 57 Offenbacher Fanclubs vorgeschlagene Lars Kissner für einen Sitz im Verwaltungsrat kandidierte, sah sich Präsident Winkler genötigt, das Wort an den mächtigsten Mann im Verein weiterzugeben: Horst Jung, Chef des langjährigen Hauptsponsors Portas und Verwaltungsratsvorsitzender. Der meinte ziemlich erzürnt, man solle ihm bitte nicht böse sein, aber er wolle nicht, daß Verwaltungsratsinterna an die Öffentlichkeit gelangten. Damit war die Debatte auch schon zu Ende. Als die Anwesenden kurz darauf mit überwältigender Mehrheit den Verwaltungsrat nach Jungs und Winklers Vorstellungen, also ohne den Fan Kissner, bestätigten, sprach Ehrenpräsident Waldemar Klein den passenden Schlußsatz: "Wir haben doch alle das Herz am richtigen Fleck."

Man kann es aber auch so sehen wie der alte Traktorenfrontkämpe, der nach der Abstimmung kopfschüttelnd meinte: "Blockflötenverein. Und da bin ich auch noch Mitglied." Ob er gegen den Antrag des Kickerspräsidenten votierte oder sich wie der freundliche Kollege von Erwin der Stimme enthielt, soll sein Geheimnis bleiben.