Ein Spiel dauert 30 Stunden

Viel Bier, rechte Sprüche und ein Auswärtssieg: Unterwegs mit Hansa Rostock

Freiburg? Gar kein Problem. Da steigst du in Rostock in den Zug, öffnest das erste Bier, und dann läuft alles wie von selbst, bis du besoffen in Freiburg ankommst. Kaiserslautern dagegen! Ein Deutscher Meister ohne großen Bahnhof. Da ist Logistik gefragt, minutiöse Planung, mehrfaches Umsteigen. Für Bulette kein Problem.

Mit dem Computer-Ausdruck der Reise-Verbindungen steht der langjährige Fan des FC Hansa Rostock vor dem blauen Haus des Fanprojekts am Ostseestadion. Wie etwa kommt man am schnellsten von Kaiserslautern nach Neubrandenburg, wenn da am nächsten Tag die Hansa-Amateure spielen? Hansa-Rostock-Fans können über die anbiedernden Werbeanzeigen, nach denen ein Spiel 18 Stunden dauert, nur lachen. Ihre Auswärtsfahrten in den tiefen Westen oder Süden der nunmehr vereinigten Republik ziehen sich über 30 Stunden oder länger hin. Die Fahrt nach Nürnberg soll vergleichsweise entspannt ablaufen. Es ist die erste, denn beide Teams haben noch nie in einer Liga gespielt. Ein Sonderzug ist im Organ Fanprojekt live annonciert. Doch irgendwie haben die vielen danebengegangenen Spiele dieser Saison auch den Hardcore-Fans die Reiselust erst einmal verdorben. Für einen Sonderzug liegen Peter Schmidt, Fanprojekt-Chef und Oberfan des FC Hansa, zu wenig Anmeldungen vor. Für die 200 Aufrechten, die das letzte Auswärtsspiel des FC Hansa im Jahre 1998 beim 1. FC Nürnberg miterleben wollen, heißt das wieder einmal: Umsteigen. Erst in Schönefeld, dann in Bitterfeld.

Mülli, Matze, Schuppe und die anderen vom Fanklub "Berliner Fischköppe" stoßen in Schönefeld zum Hansa-Troß. Mit ihren Ganzkopf-Gummimasken, die an die beiden Muppet-Show-Nörgler Statler und Waldorf erinnern, verstören Mülli, der erste Vorsitzende, und Schuppe, sein Vize, die morgendlichen Pendler. Matze bevorzugt, dem Anlaß gemäß, die rot-weiße Weihnachtsmann-Mütze. Die anderen erscheinen im mehr oder weniger üblichen Fan-Outfit mit Wollmütze und Schal.

Wenn er nicht in Sachen Hansa unterwegs ist, arbeitet Schuppe als Hausmeister. Mit ehemaligen Spielern wie Stefan Studer oder Trainern wie Frank Pagelsdorf ist er noch heute auf Du und Du. Sie erinnern sich an ihn, denn der Mann fällt auf mit seinem Wikingerhelm voller blinkender Lämpchen. Schuppes Haar ist vorne und oben ganz kurz und hinten ganz lang; dazu ein Schnurrbart. Ganz anders Matze. Er trägt das Haar kurz, aber nicht geschoren, dazu ein hippes Bärtchen. Matze ist Finanzbeamter und ein echter (Ost-)Berliner. Woher dann die Liebe zu Hansa? "Das ist halt die einzige Mannschaft, die im Osten übriggeblieben ist."

Man gönnt sich noch schnell einen Kaffee und eine Bockwurst als Grundlage. Derweil spuckt der Zug aus Rostock die Mecklenburger Fans aus. Die Fischköppe aller Länder vereinigen sich. Im Zug nach Bitterfeld wird dann erst einmal eine Runde Kleiner Feigling gefrühstückt. Dazu Rostocker Pils. Matze teilt sich seine Bierdosen ein. "Ich trinke erst im nächsten Zug wieder eine." Bald gesellt sich ein Hansa-Fan der anderen Art hinzu: "Wir hassen die Türkei" ist noch einer der harmloseren Sprüche, die dieser blonde Klotz absondert. Die Fischköppe beachten ihn nicht. "Singt, sonst seid ihr keine Fans", grölt der Dummdeutsche, bevor er seitlich wegkippt und schlafend eine Auszeit im Dreck nimmt. "Siehst du", sagt Mülli, "solche Probleme lösen sich immer von selbst." Doch nur wenige Minuten später lärmt der Mann wieder durch den Zug.

Ohnehin ist es ein ständiges Kommen und Gehen. Kaum jemand bleibt ruhig auf seinem Platz sitzen. "Was wollen die Werder-Bremen-Fans hier?" fragt einer. Gemeint sind die grünuniformierten Polizisten, die in regelmäßigen Abständen an den Fanabteilen vorbei defilieren. Auffallend viele Frauen sind dabei.

Einmal in die Masse eingereiht, verläuft so eine Auswärtsfahrt fast wie von selbst. Man muß nur noch mitlaufen, um ans Ziel zu gelangen. In Nürnberg wälzt sich der Troß zunächst durch die Fußgängerzone. Gesänge wie "Wir sind die Jungs vom Getränkekombinat Hanseat", "Alle waren da, außer Erich Hoecka" oder "Wir woll'n Begrüßungsgeld" kennt der gemeine Nürnberger noch nicht, trägt sie aber mit Fassung. Hier und da ist sogar ein anerkennendes Lächeln zu sehen. Ein Zivi zeigt weniger Humor, dafür aber seinen Dienstausweis. Der Lärm müsse aufhören, sonst: Platzverweis. Macht nichts. Es ist sowieso Zeit, sich auf den Weg zum Stadion zu machen.

Schnell noch was Warmes. Glühwein für sechs Mark. Da ist die Tasse natürlich im Preis inbegriffen. Weniger gut ist das Preis-Leistungsverhältnis zunächst im Stadion. Da fährt man zwölf Stunden durch Deutschland, um nach 21 Minuten Spielzeit in Rückstand zu geraten. Alles scheint umsonst, als kurz vor der Halbzeit auch noch das 0:2 fällt. Doch diesmal werden die Kummer gewohnten Hansa-Fans entschädigt. Ausgerechnet der Algerier Abder Ramdane und der sonst gern geschmähte Nigerianer Victor Agali machen die Tore zum Ausgleich. Was sonst oft den Rostockern passiert, müssen heute die Nürnberger Fans durchmachen: Ihr Team verspielt einen sicher scheinenden Vorsprung in den letzten Minuten. Für Rostock ein Unentschieden wie ein Sieg.

Trainer Ewald Lienen, bei der Einwechslung von Agali noch der Buhmann, wird nach Spielende mit Sprechchören aus dem Rostocker Fanblock gefeiert. Jetzt läßt er sich natürlich gern dort sehen. Jeder einzelne will ihn abklatschen. Schuppe sitzt längst mit einigen anderen oben auf der Spielfeldumzäunung. Polizei und Ordner fürchten einen Sturm auf den Rasen und ziehen einen Kordon um den Fanblock.

Doch die Fans wollen nur singen und feiern: "Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh'n wir nicht." Genau dahin aber will die Polizei. "Die Sportveranstaltung ist zu Ende, bitte verlassen Sie das Stadion", lautet die förmlich-zuvorkommende Anrede, die mit weniger höflichem Herumstoßen argumentativ untermauert wird. Also raus. Neben dem Stadion lockt ein Bierzelt mit Weltstadtprogramm bei freiem Eintritt. Der 1. FC Nürnberg bietet den Seinen süßen Sekt und Hausfrauen-Striptease. Davon läßt sich der Rostocker nicht korrumpieren. Dann lieber in den "Grünen Baum". Der liegt im Bahnhofsviertel. "Griechischer Wein" schallt es aus dem "Grünen Baum" auf die Straße. Schließlich wollen auch die Polizisten, die in ihrer Grünen Minna draußen vor der Kneipe stehen, unterhalten werden. Und tatsächlich wird die Kneipe von Griechen geführt. Das Resopal-Ambiente ist aber so deutsch wie die Musik und das Bier. Null fünf drei Mark zwanzig. Damit kann man umgehen. Trotz drangvoller Enge wird ausgiebig getanzt. Als die Fischköppe in der brechend vollen Kaschemme ankommen, ist Bulette schon da. Er hatte es zu diesem Freitagabendspiel nicht weit, denn er arbeitet die Woche über in Nürnberg. Prüft dort ICE für die Deutsche Bahn. "Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh und sucht die Freiheit irgendwo", singt Bulette. Auch Jan träumt von der großen Freiheit. "Ich fahr' morgen nach Waren an der Müritz", sagt er. "Hab' da eine Freundin. Die ist aus dem Westen." Ganz vorn hat sich der "Zeckenblock" versammelt, die wenigen linken Hansa-Fans mit langen Haaren und Bärten. Die vielen Kurzgeschorenen, die ebenfalls im "Grünen Baum" feiern, scheint das nicht zu provozieren. "Wir haben auch selten Probleme mit Rechten", sagt Veit, der bis vor kurzem das Fanzine Frösi herausgab. "Natürlich distanzieren wir uns von ihren Ansichten. Aber mit vielen kann man sogar reden, und beim Thema Hansa sind wir uns ja einig." Bald herrscht Aufbruchstimmung. Vorteilhaft bei dem Alkohol-Pegel, daß der Weg zum Bahnhof nicht weit ist.

Im Zug ergattern die Berliner Fischköppe ein Abteil für sich. Nur können sieben Mann schlecht auf sechs Sitzen schlafen, da streckt sich einer halt im Gepäcknetz aus. Schon bald ist Ruhe im Abteil. Ein letztes Mal kreist der Wodka Lemon. Sechs Stunden bis Schönefeld. Gut, daß ihnen das Umsteigen in Bitterfeld diesmal erspart bleibt.