Freiheit für Martin Semmelrogge

Kann sich noch jemand an die pubertären achtziger Jahre erinnern? Das komische "Anything goes"-Jahrzehnt? Als Spaß-Haben das höchste Ziel war und plötzlich alles möglich machte? Als an den Hauswänden westdeutscher Städte eine seltsame Parole auftauchte: "Freiheit für Martin Semmelrogge"? Seinerzeit arbeiteten viele West-Berliner Studenten in einer Schokoladenfabrik am Stadtrand. Packten am Fließband Tausende von Tafeln in Verkaufsgestelle für Supermärkte. Protestierten eines Morgens zum Schichtbeginn um sechs mit erhobener linker Faust gegen den verschäften Akkord. Und skandierten in grünen Kitteln, mit weißen Handschuhen: "Freiheit für Martin Semmelrogge".

Niemand wußte, wie die komplett sinnleere Bewegung entstanden war. Der rothaarige und mausbiberartige Münchner Kleindarsteller Martin Semmelrogge war auf dem Sprung, Karriere im deutschen Film- und Fernsehwesen zu machen. Hatte schon im "Boot" oder bei "Derrick" als Schwenkfutter gedient. Spielte meist Kleinkriminelle oder zwielichtige Charaktere. Näselte sich rotzfrech durch seine Rollen und die Wirklichkeit. War in allerlei justitiable Affären verwickelt. Konnte jedoch stets seinen Kopf aus der Schlinge ziehen. Bis er eines Tages im Kaufhaus für sein Kind ein Fahrrad stahl, die Rollreppe hinunterbretterte, festgehalten wurde und hinter Gitter mußte. Plötzlich hieß es allerorts: "Freiheit für Martin Semmelrogge".

Am Dienstag vergangener Woche stand der 43jährige wieder einmal vor Gericht. 1995 war ihm wegen Trunkenheit am Steuer der Führerschein entzogen worden. 1997 hatte man ihn zweimal auf der Autobahn A 9 im Landkreis Hof und einmal in Stuttgart ohne gültige Papiere erwischt. Jetzt verurteilte ihn das Amtsgericht Hof zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung. "Freiheit für Martin Semmelrogge"?