Brecht der Wendungen

Frederic Jameson liest Brecht poststrukturalistisch

Am Ende von Frederic Jamesons Essay über die Logik der Kultur im Spätkapitalismus, Anfang der achtziger Jahre geschrieben, steht die Überlegung, die ästhetischen Probleme der Postmoderne in praktisch-politische Fragen zu überführen. Ein positiv verstandenes Programm der (Re-)Politisierung: Es fordert von der Kunst die Rückgewinnung eines Verhältnisses zur gesellschaftlichen Totalität, als die unentbehrliche Voraussetzung politischer Handlungsfähigkeit und sozialer Befreiung unter den Bedingungen eben dieser Postmoderne. Die anvisierte Methode ist dort benannt: cognitive mapping, ein Kartographieren der Wahrnehmung und der Erkenntnis, und das Modell solcherart Landvermesserkunst ist ausfindig gemacht am Werk Bertolt Brechts.

Nun hat Frederic Jameson Brechts Arbeiten selbst "vermessen", und bereits im Titel seines Berichts, "Brecht and Method", kündigt sich die Besonderheit seiner diesmaligen Reprise des Repolitisierungsthemas an - samt bestimmter Aporien. (Die im Argument-Verlag gerade erschienene Übersetzung titelt "Lust und Schrecken der unaufhörlichen Verwandlung aller Dinge: Brecht und die Zukunft", und auch das Allegorisierende dieser Formulierung paßt zu dem Buch).

Jameson entwickelt sein Projekt unter einer doppelten Voraussetzung: Brecht - oder vielmehr das zunächst allgemein als das "Brechtische" Identifizierte - wird als der produktive Zusammenhang begriffen, in dem eine spezifische Verwendung der Sprache, eine Anschauungsweise und eine Art, Geschichten zu erzählen, zusammentreten. Methode heißt, zweitens, die in Brechts Arbeiten auffindbare grundsätzliche "Zurückweisung von metaphysischen Prinzipien und Inhalten, wobei sie die Folgen dieser Zurückweisung mit intellektuellem und philosophischem Erfindungsreichtum zu überwinden sucht".

Brecht(isch) steht also für die literarische Produktion, Methode für eine Materialismus, Dialektik, Marxismus bergende, kritische, politische Haltung, wie sie Walter Benjamin in seinen um 1938 im Exil geschriebenen Kommentaren zu Gedichten von Brecht hervorhob: "Unter ihren mannigfaltigen Haltungen wird man eine vergebens suchen, das ist die unpolitische, nicht-soziale. Dem Kommentar ist es angelegen, die politischen Inhalte gerade rein lyrischer Partien herauszustellen."

Der Verbindung von politischer Haltung und literarischer Produktion gilt das Interesse. Jameson untersucht, wie diese Verbindung den Komplex von ästhetischen Wirkungen, dramatischen Techniken, theoretischen Formulierungen und politischen Einsätzen konstituiert, den Brecht "Verfremdung" oder "V-Effekt" nennt. Das "postume Schicksal", wie Jameson sagt, Brechts Kanonisierung zum Klassiker, läßt es dabei angebracht erscheinen, Brechts Verfremdungskonzept selbst zu "verfremden", um es zu verteidigen.

Jameson geht es um den Nachweis, daß die, technisch gesprochen, Unterbrechungen einer Handlung und, philosophisch formuliert, Autonomisierungen einzelner Teile eines Zusammenhangs oder Arguments Bedingungen der Möglichkeit sind, jedwede "Institution zu dekouvrieren, die dank der historischen und kollektiven Handlungen von Menschen und ihren Gesellschaften zustande kam und sich so als änderbar erweist". Die Verfremdung stellt folglich auch den Gesellschaftskommentar oder die intellektuelle Kritik in Frage, wo diese selbst Institution sind. Theorie und Politik können eben nicht in einem additiven Verfahren zur künstlerischen Produktion hinzutreten - Jameson kritisiert dies etwa an neueren Collage- und Mixed-Media-Experimenten -, sondern sind Teil des Produktionsprozesses selbst, eingeschrieben in eine "Logik der Produktion".

Dieser Produktion ist es nicht um die Herstellung von passivierten "Gemeinschaften" zu tun - bis hin zur kompakten Masse, deren Nützlichkeit für den Faschismus Benjamin in der zweiten Fassung seines Aufsatzes "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" angesprochen hat - als vielmehr darum, "das Publikum zu spalten", die gesellschaftlichen Konflikte hervortreten zu lassen. Jameson verteidigt diese Methode gegen die Vorlieben des "progressiven Zeitgeists" für das Heterogene, Diskontinuierliche, den Fluß und die "Vielheit".

Analog zu Marx' Methode, den modernen Klassenkampf in der unterschiedslosen Gleichheit und den juridischen Äquivalenzen in der Folge der bürgerlichen Revolution zu entschlüsseln, geht es, so Jameson, Brecht um die Entdeckung und Hervorhebung der gesellschaftlichen Widersprüche an einem Vorgang, in dem "Moment, in dem die Relationalität der Differenzen an die Oberfläche zu gelangen oder, wenn man so will, organisiert, umgeschrieben, konstruiert zu werden beginnt".

Mit dem Komplex Verfremdung eng verbunden ist ein Begriff, dem Jameson den zweiten Teil seines Buchs widmet: der Gestus. Den Hinweis auf die Herkunft eines Gestus' aus der Unterbrechung einer Handlung gibt dabei wiederum Benjamin (etwa in seinem Aufsatz "Der Autor als Produzent" von 1934), ebenso auf den Zweck, Haltungen auszustellen, zu zeigen, "zitierbar" zu machen. Die Verbindung des Gestus' zum Politischen (eher als zum Ästhetischen) ist bei Benjamin bereits ausgesprochen; Giorgio Agamben hat den Zusammenhang nachgezeichnet, in den jener die Bedeutung der Unterbrechung einrückt: das Einhaltgebieten "in der Form einer Stillstellung des Redeflusses, die diesen freilich nicht zum Schweigen bringt", sondern eine Stellungnahme verlangt.

Jameson argumentiert in eine ähnliche Richtung, unterstreicht aber zugleich die Verbindungslinie, die sich genau hier zwischen der dramatischen Rede des epischen Theaters und der alltäglichen Rede ergibt. Die Methode, auf "Haltungen zu achten, die den Sätzen zugrunde liegen", wie Brecht das im "Me-ti. Buch der Wendungen" formulierte, gehört zur narrativen Praxis, zum alltäglichen Geschichtenerzählen. Was Jameson zunächst als allegorisches Verhältnis zwischen Theater und gesellschaftlichen Verhältnissen anspricht, erfährt so eine Erklärung: Da Handlungen nicht so sehr reflexiv und selbst-bewußt, sondern immer schon "proto-dramatisch" sind, "können wir annehmen", daß "jeder ständig eine Rolle (spielt)" und wir "ununterbrochen Geschichten (erzählen), um uns selbst zu erklären, wobei wir unsere Pointen auf alle möglichen Arten in Szene setzen, undramatisch ebenso wie ostentativ und selbstparodistisch".

In diese Erklärung geht eine Voraussetzung ein, die das Verständnis von Sprache und Ideologie sowie deren Verhältnis betrifft: Sprache ist selbst proto-narrativ, und Begriffe tendieren dazu, in Erzählungen einzugehen; entsprechend ist Ideologie, die - Jameson zitiert Louis Althusser - das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren Existenzbedingungen repräsentiert, "letztlich ein narrativer Prozeß". Das Besondere an Brechts Methode, so Jameson, besteht nun aber gerade nicht in ihrer Ausrichtung auf "Performativität" oder gar in einer Art populistischer Andacht für "alle kleinen Akte des Alltagslebens", sondern es geht ihr darum zu zeigen, was am Gewöhnlichen unpopulär und am Alltäglichen ungewöhnlich ist.

Hier stößt der Versuch, ästhetische Fragen in politische zu überführen, an eine Grenze. Jameson scheint dazu zu neigen, die Möglichkeit einer Kritik des Alltagslebens, die eine bestimmte, "singuläre" literarische Produktion eröffnet, mit dem eingangs erwähnten cognitive mapping in eins zu setzen. Unter anderem bliebe eine wesentliche Materialität des Alltags dabei unbeachtet: Allgemein gesagt, die Anwesenheit des Staats in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die mit Brecht anzuvisierende "Ideologiezertrümmerung" aber kann von der Materialität der Ideologie nicht absehen, will sie nicht von den Erneuerungen der herrschenden (ästhetischen, philologischen) Kunstdiskurse und -praxis eingeholt werden.

Jamesons Vermessung der Methode leistet dennoch wenig zu solchen Erneuerungen. Der Hinweis etwa auf das Kollektiv "Brecht" als "das Versprechen und das Beispiel einer Zusammenarbeit, die auch die kleinsten Details der literarischen Satzproduktion einschließt", macht explizit klar, was bei den Angriffen etwa eines John Fuegi auf dem Spiel steht (und nicht nur, was von ihnen zu halten ist). Aber dieses "Denken in anderen Köpfen" (Brecht) wäre weiter zu erklären, die Ausnahmesituationen der Lehrstück-Versuche und des Berliner Ensembles im Hinblick auf ihre Beschränkungen zu befragen, um kenntlich zu machen, welche Beziehungen dieser "Modellcharakter der Produktion" mit der gesellschaftlichen Produktion überhaupt unterhält.

Jameson reflektiert am Ende seines Buchs die bei Brecht anzutreffende Vorstellung von Produktivität als mögliches Leitbild einer gesellschaftlichen, emanzipatorischen Praxis. Jenseits des ästhetisierenden Rahmens "klassischer" Literatur, in den er diese Überlegungen stellt, eine zentrale Frage.

Frederic Jameson: Lust und Schrecken der unaufhörlichen Verwandlung aller Dinge: Brecht und die Zukunft. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Pelzer. Argument, Berlin / Hamburg 1998, 168 S., DM 29,80