Boom! Boom!

Wirtschaftswunder im Wirtschaftsressort - Die großen Tageszeitungen räumen Aktienkursen, Börsennachrichten und Crash-Reportagen immer mehr Platz ein

Was waren das noch für Zeiten, als man den ödesten Teil der Zeitung einfach überblättern konnte. Die triste Welt der Arbeit und Rendite versteckte sich im hinteren Teil des Blattes, nur wirklich Hartgesottene bekundeten Interesse an der Lektüre. Der Satz "Ich lese regelmäßig die Wirtschaftsseite" reichte schließlich völlig aus, um jedes Gespräch schon im Ansatz zu ersticken. Denn der Wirtschaftsteil schien nur geschaffen für sturzlangweilige VWL-Studenten, Prokuristen oder Seminar-Marxisten - also Menschen, die man am besten meidet.

Das ist längst anders. Heute sind die Nachrichten über Dax und Jones, Euro und Derivate ungefähr so hip wie früher ein Artikel über die Rolling Stones. "Der tägliche Flirt mit der Umlaufrendite", überschrieb die Süddeutsche Zeitung einen Bericht anläßlich der Ausweitung ihres Wirtschaftsteils und schlug schon mal den Ton an, der sich in der vormals drögen Wirtschaftsberichterstattung durchzusetzen beginnt.

Anfang dieses Jahres hat die SZ ihren Finanzteil erweitert und die Wirtschaftsredaktion kräftig aufgestockt. Fast alle Zeitungen folgen diesem Trend. Die Berliner Zeitung hatte bereits im vergangenen Jahr ihre Wirtschaftsredaktion ausgebaut. Das Konkurrenzblatt Tagesspiegel versucht bereits seit geraumer Zeit, sich durch seine Kooperation mit dem Handelsblatt und dem Wall-Street-Journal als das Wirtschaftsblatt unter den Berliner Tageszeitungen zu profilieren. Auch die biedere Welt zieht mit und will sich durch eine "ausführlichere und kompetente Wirtschaftsberichterstattung" ihren Platz unter den "führenden Zeitungen" in der Republik erobern. Auch die FAZ, die nicht gerade im Ruf steht, jedem Trend hinterherzulaufen, hat sich seit Januar eine zusätzliche Finanzseite zugelegt.

Der Aufbau des Wirtschaftsteils ist bei allen Zeitungen ähnlich. Auf den ersten Seiten sind Berichte zur Wirtschafts- und Währungspolitik plaziert, dann folgen Artikel zu einzelnen Unternehmen, danach die Analyse des Finanzmarktes.

Mit der Ausweitung des Wirtschaftsteils in den Tageszeitungen aber ist es längst nicht getan, hinzu kommt eine wahre Flut von Fachzeitschriften. Für innovationsschwache Leser steht Motivation - "die Zeitschrift für erfolgreiches Motivieren von Führungskräften" - zur Verfügung. Wer auf der Höhe der Zeit ist, greift zu Pro Firma - "Unternehmenskauf - jetzt zuschlagen" - oder gleich zu Chef Spezial. Notfalls hilft auch ein Guter Rat zum Thema "richtig erben". Und wem überhaupt nichts mehr einfällt, der nimmt einfach die Geldidee zur Hand.

Die Ursache für die Konjunktur des Wirtschaftjournalismus: Für die SZ war das "zunehmende Interesse an Wirtschafts- und Geld-Themen" ausschlaggebend, der Wirtschaft mehr Platz einzuräumen. Auch das Zielpublikum ist ausgemacht: Einerseits hat man natürlich die Wirtschaftselite im Visier, die man mit der ausführlichen Berichterstattung an sich zu binden sucht. Vor allem aber ist es die Masse der Leser, die von Finanzdingen keine Ahnung haben, aber vom Wachstum ihres persönlichen Vermögens träumen. Die "Artikel über Finanzmärkte" sollen die "Trends in der Börse" sowie "komplexe Themenvielfalt rund ums Geld auch für Laien verständlich machen".

Spätestens mit Einführung der Telekom-Aktie wurde deutlich, in welchem Ausmaß sich die Bedeutung der Finanzmärkte verändert hat. Der Anteil der Aktienbesitzer hat sich auch in Deutschland enorm erhöht. War die Börse früher nur für wenige Eingeweihte von Bedeutung, genießt sie mittlerweile die Popularität der Bundesliga. Häufig landen Berichte zum Aktienmarkt deshalb auf der Titelseite.

Die Verknüpfung der eigenen Existenz mit dem Umlauf der Rendite macht selbst aus biederen Lohnempfängern feurige Finanzexperten. Hatte in den Siebzigern der Slogan "Das Private ist politisch" eine gewisse Plausibilität, so muß es heute heißen: "Alles ist Ökonomie".

Selbst die langweilige Wirtschaftswoche kann mit dem Spruch "Nichts ist spannender als Wirtschaft" werben, ohne sich lächerlich zu machen. Zwar sind der jüngste Geschäftsbericht über SAP oder der neueste Börseneinbruch in Asien nicht die Themen, mit denen man sich am Feierabend die Zeit vertreiben möchte. Aber selbst, wer nur billiger telefonieren will, muß mittlerweile fast ganzseitige Tabellen studieren - und nach zwei Wochen wieder alles revidieren.

Gnadenlos scheint sich die Ökonomie in alle Lebensbereiche auszubreiten. Der Exporterfolg der schwedischen Popgruppe Cardigans steht ebenso im Wirtschaftsteil wie der Bericht über die steile Karriere der britischen "jungen Wilden" am Kunstmarkt. Auch die Potenzpille Viagra fand sich im Wirtschaftsteil wieder, schließlich sind die Gewinne der Pharmaindustrie ein lohnendes Thema.

Mit der Hinwendung der Wirtschaftsberichterstattung zur Populärkultur änderte sich auch der Schreibstil. "Kühl nahmen die Master of the Universe die Zahlenkolonnen auf ihren Bildschirmen ins Visier, während 10 000 Kilometer entfernt den Angestellten der Zentralbank der kalte Schweiß ausbrach." So ähnlich könnte fast jeder Artikel im Spiegel über die jeweils neueste Finanzkrise beginnen. Die Wirtschaft ist ein Krimi, Geld oder Leben, oder doch zumindest etwas Stoff für die Phantasien des modernen Spießers, z.B. Matthias Mattusek, der uns via Spiegel über seine großen Sorgen als Kleinanleger informiert - steht der Jaguar bald vor der Tür, oder ist demnächst die Rente futsch?

Daran müssen sich manche Redakteure erst noch gewöhnen: Der publizistische Aufstieg des Wirtschaftsjournalismus erfolgte in relativer kurzer Zeit. Spätestens mit dem Ende der Sowjetunion zeichnete sich ab, daß der Lebensunterhalt weniger von der Ideologieproduktion als von der Arbeitsproduktivität abhängt. Auf den Kalten Krieg folgte die Konkurrenz der Standorte - und der Siegeszug der neoklassischen Wirtschaftslehre. "Globalisierung", "Privatisierung" und "Liberalisierung" sind Schlüsselbegriffe, die die Wirtschaftsseiten dominieren. "So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht", postulierte Margaret Thatcher. Das Subjekt existiert nur noch als Unternehmer. Jeder macht sein eigenes Glück - oder eben nicht.

Die Deregulierung der Arbeits- und Sozialverhältnisse - z.B. die Ablösung der Rente durch die private Altersversorgung in Form von Aktien oder Einlagen in Investmentfonds - sorgt für eine lebhafte Nachfrage auf den Finanzseiten. So enthält der Kursteil der SZ heute täglich rund 20 000 Zahlen - vor zehn Jahren waren es weniger als ein Drittel davon. Alles wird komplizierter, auch für die Wirtschaftsjournalisten. Das betrifft bereits die Informationsbeschaffung. Genügte früher oft ein Anruf in den Pressestelle von Unternehmern oder der Bundesbank, so verfügen heute einzelne Wertpapierspezialisten oder Experten der Investmentbanken über die wesentlichen Fakten und Einschätzungen.

Die Entwicklung auf den Finanzmärkten vollzieht sich derart rasant, daß manch altgedienter Wirtschaftsjournalist ihr kaum noch folgen kann. Wer in den siebziger Jahre Volkswirtschafts studierte, hat von Finanzderivaten bisher kaum etwas gehört. Gefragt ist daher vor allem ein Typ von Journalist, der seine Spezialkenntnisse über die Finanzmärkte mit dem unerschütterlichen Glauben an die unsichtbare Hand des Marktes verbinden kann.

Für solchen Nachwuchs aber ist gesorgt. "Es gibt so etwas wie einen Konsens der neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler an den Universitäten, die von einem Nirwana einer optimal effizienten, störungsfrei funktionierenden Wirtschaft eines sich selbst regulierenden Weltmarktes träumen", schreibt der britische Historiker Eric Hobsbawm. "Sie betreiben Ökonomie ohne politische, soziale oder jede andere nicht-mathematische Dimension."

Dumm nur, wenn sich die unsichtbare Hand des Marktes wieder einmal als das erweist, was sie dem Namen nach ist: ein Phantom - ungreifbar und unberechenbar. Die Experten liegen mit ihren Prognosen immer öfter daneben. Asienkrise, Börsencrashs oder selbst die Preisentwicklung der Telekom beweisen das. Ob die Kurse weiter steigen oder der Dax wieder in den Keller fällt, ob nächstes Jahr die Weltwirtschaft zusammenbricht oder die Dividende doch noch für den Urlaub reicht - vermutlich war die Entwicklung der Ökonomie noch nie so schwer vorherzusagen wie heute.

"Wir wollen nicht klüger sein als der Markt", zitiert der Spiegel den englischen Labour-Chef Tony Blair. Diesem Credo schließen sich auch die meisten Zeitungen an. Die Ausweitung der Wirtschaftsberichterstattung bedeutet zwar einen Zugewinn an Information, nicht aber an Erkenntnis.