Zahnlose Rebellen

Parteidisziplin geht vor Kontrolle: Der Mißtrauensantrag gegen die EU-Kommission ist im Europaparlament gescheitert

Jacques Santer zeigte sich "erleichtert und zufrieden". Das Europäische Parlament (EP) habe "ein klares Vertrauensvotum für die Kommission" abgegeben, erklärte der EU-Kommissionspräsident. Auch eine Sichtweise.

Santer und seine 19 Kommissionskollegen hatten gerade einen parteiübergreifenden Mißtrauensantrag glücklich überstanden. Nur 232 von 552 Europaparlamentariern hatten am vergangenen Donnerstag für die Demissionierung der EU-Kommission votiert. Zur Abwahl wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen.

"Die europäische Demokratie wird noch erfunden", und keiner wüßte, "was das wird", kommentierte der grüne Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit die Ereignisse in der letzten Woche. Doch das erste große Experiment zur Entwicklung europäischer Demokratie ist gescheitert.

Dabei war es eng geworden für die selbstherrlichen EU-Kommissionäre. Noch am Mittwoch hatte das deutsche Kommissionsmitglied Monika Wulf-Mathies bei ihren Parteifreunden im Bonner Kanzleramt Alarm geschlagen. Die Lage sei nicht mehr kalkulierbar, eine Abwahl möglicherweise nicht mehr abzuwenden. Denn der Unmut im Europaparlament war bedrohlich angeschwollen. Die Suspendierung von Paul van Buitenen Mitte Dezember brachte für viele das Faß zum Überlaufen. Der niederländische Kommissionsbeamte hatte einen 34seitigen Bericht über eine Reihe von Betrugsaffären in der Brüsseler Behörde erstellt und der grünen Fraktion übergeben. Die Grünen leiteten das Dossier an den Haushaltskontrollausschuß des EU-Parlaments weiter. Der Ausschuß beklagt seit langem, daß ihm von der Kommission wichtige Dokumente über Unregelmäßigkeiten in der EU-Leitungsbehörde vorenthalten werden.

Beispiel: das Bildungsprogramm Leonardo. Die behördeninternen Finanzkontrolleure stießen bei ihren Untersuchungen gleich auf eine Reihe von schwerwiegenden Verfehlungen bei der abwickelnden Firma Agenor - unter anderem auf gefälschte Abrechnungen, Sozialversicherungsbetrug und Steuerhinterziehung. Trotzdem verlängerte das Europaparlament ahnungslos im November letzten Jahres den Vertrag. Es wurde einfach nicht informiert.

Er habe es nicht mehr ausgehalten, "wie alles vertuscht wird", begründete Finanzkontrolleur van Buitenen die Übergabe der Dokumente an die Grünen. Es fehle eine wirksame Kontrolle, so der Niederländer. Die Konsequenz: "Die schwarzen Schafe merken, daß ihnen nichts passiert, also machen sie weiter." Dagegen habe er vorgehen wollen. Die Reaktion der Kommission: die Suspendierung von van Buitenen und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens, an dessen Ende seine Entlassung stehen dürfte. Es könne nicht hingenommen werden, daß ein Beamter ohne Erlaubnis vertrauliche Schriftstücke verbreite, erklärte eine Sprecherin von Kommissionspräsident Santer.

Bereits seit längerem sieht sich die Kommission mit Vorwürfen über Mißmanagement, Vetternwirtschaft, Betrügereien und Korruption konfrontiert. Besonders in der Schußlinie: die für Bildung, Forschung, Wissenschaft und Jugend zuständige Französin ƒdith Cresson und der spanische Vize-Präsident der Kommission Manuel Mar'n, verantwortlich für die Ressorts Beziehungen zu den Mittelmeerländern, dem Nahen Osten, Lateinamerika sowie für Entwicklungshilfe. Cresson, seit 1995 Kommissionsmitglied, soll Freunde und Vertraute mit lukrativen Jobs versorgt haben. Außerdem war sie für die Abwicklung des Leonard-Programms verantwortlich.

Dem seit 1985 amtierenden und somit dienstältesten Kommissar Mar'n wird vorgeworfen, die bei seinem Tourismusprogramm beteiligten Firmen begünstigt zu haben. Ebenso habe es beim Amt für Humanitäre Hilfe der EU (Echo), für das der gelernte Jurist bis 1995 zuständig war, Unregelmäßigkeiten gegeben.

Das Europaparlament begehrte auf, Cresson und Mar'n sollten zum Rücktritt aufgefordert werden. Doch die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, Pauline Green, sprachen sich dagegen aus - Cresson und Mar'n gehören schließlich zum gleichen Club. Und Genossen müssen schließlich zusammenhalten. Auch Kommissionspräsident Santer sprang für die beiden in die Bresche: Wenn die Rücktrittsforderung gegen Cresson und Mar'n durchkommt, werde er zurücktreten, drohte er den christdemokratischen Fraktionsführern im EU-Parlament.

Das wollten die nun auch nicht - Santer ist ja einer der ihren. Nun versuchte Green eine geschickte Rochade: ein Mißtrauensantrag gegen die gesamte Kommission - wogegen jedoch die Sozialdemokraten stimmen sollten. So sollten der Kommission das Vertrauen ausgesprochen und die belasteten Kommissare aus der Kritik genommen werden.

Womit Green nicht gerechnet hatte: Grüne, Linkssozialisten, Liberale fanden plötzlich ebenso wie die kleineren rechten Fraktionen Gefallen an der Idee eines Mißtrauensantrages. Das Mißtrauensvotum ist das einzige wirksame Machtinstrument der Versammlung für wohlfeile Resolutionen und lohnende Diäten. Und die Wut über die Kommission schien auch bei vielen Sozial- und Christdemokraten so groß, daß sie vielleicht ihre Fraktionsdisziplin hätten vergessen können.

Viermal hatte es zuvor Mißtrauensanträge gegen die EU-Kommission gegeben. Alle scheiterten kläglich. Das letzte am 20. Februar 1997 wegen der Versäumnisse im Umgang mit der Rinderseuche BSE. Damals stimmten von den anwesenden 459 Abgeordneten nur 118 für den Antrag. Jetzt sollte ein neuer Anlauf genommen werden. Das Problem: Einzelne Kommissionsmitglieder sind nicht abrufbar - entweder müssen alle gehen oder keiner. Nun hing alles von den beiden großen Fraktionen ab: der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (PSE) und der Fraktion der Europäischen Volkspartei (PPE).

Doch bei den europäischen Sozialdemokraten und Christdemokraten erlosch der Rebellionsgeist, noch bevor er sich richtig hätte entfalten können. Sie stimmten mehrheitlich gegen den Mißtrauensantrag. Statt dessen setzte die PSE eine zaghafte Resolution durch, in der auf eine Aufklärung der Betrugsfälle bestanden und Kommissionspräsident Santer aufgefordert wird, im Fall konkreter Beweise für betrügerisches Verhalten die verantwortlichen Kommissare zum Rücktritt aufzufordern.

Zudem sollen die Praktiken bei der Auftragsvergabe geprüft und ein "Rat der Weisen" eingerichtet werden, der die Akteneinsicht haben soll, die dem EP bisher verweigert wurde. Dieser Rat soll Betrugsfälle aufklären und darüber bis zum 15. März berichten - wie er allerdings besetzt sein wird, ist noch unklar. Damit bescheinigte sich das Parlament, daß es nicht in der Lage ist, die EU-Kommission tatsächlich zu kontrollieren.

"Eine Schande" sei das Scheitern des Mißtrauensvotums und die Einsetzung eines außerparlamentarischen Kontrollgremiums, so die belgische Fraktionsvorsitzende der Grünen, Magda Aelvoet. Die Abgeordneten hätten sich damit "selbst das Mißtrauen ausgesprochen". Die PSE-Fraktionschefin Pauline Green sieht das anders. "Die Autorität des Parlaments ist gestärkt", kommentierte sie die Entscheidung. Die Lacher waren auf ihrer Seite.