Liaison dangereuse

"Aimée und Jaguar": Max Färberböcks Film über ein ungleiches Paar eröffnet die Berlinale.

Im März 1946 besuchte die amerikanische Journalistin Janet Flanner für die Zeitschrift The New Yorker die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und erlebte dabei die Verteidigungsrede Hermann Görings: "Was er seinen Richtern bot, war kein mea culpa, sondern eine Dissertation über die Technik der Macht. Der schreckliche Fehler in seiner Argumentation war, die Zerstörung, die im Leben anderer Menschen und Nationen angerichtet wurde, zu übersehen. (...) Im Gerichtssaal befanden sich nicht mehr als ein paar hundert Leute. Sie hatten das Privileg, den persönlichen Ausführungen eines Mannes zu lauschen, der mitgeholfen hatte, Millionen Leben zu vernichten."

Es ist ziemlich schwer, sich Millionen Leben vorzustellen, leichter sind ein paar exemplarische Einzelschicksale. Zum Beispiel Elisabeth Wust, geboren 1913, genannt Lilly, auch Aimée, Hausfrau, vier Kinder, Mutterkreuz in Bronze, verheiratet mit einem strammen Nazi. Und Felice Schragenheim, geboren 1922, genannt Jaguar, eine lesbische Jüdin, die im Untergrund lebt und einer Widerstandsgruppe angehört. 1942 lernen sie einander in Berlin kennen, werden ein Paar.

Die Journalistin Erica Fischer hat ihre Geschichte in dem Buch "Aimée und Jaguar" (1994) bekannt gemacht. Max Färberböcks gleichnamiger Film eröffnet die 49. Berliner Filmfestspiele. Fischer ist der durch die Zeitumstände und Biographien ungewöhnlichen Beziehung mit historischer und sozialkritischer Akribie nachgegangen. In Gesprächen vor allem mit Elisabeth Wust, durch das Aufspüren von Zeitzeugen und Originalmaterial hat sie eine wirklichkeitsnahe Bestandsaufnahme erstellt. Und dabei stets dafür gesorgt, daß die brisanten Widersprüche der Konstellation - hier die lesbische, verfolgte Jüdin, dort die linientreue Mitläufer-Mutti, beide einander dennoch ganz und gar verfallen - sichtbar bleiben.

Faszinierend ist der Prozeß, in dem sich Lilly Wust aus dem fraglos übernommenen heterosexuellen Frauenideal - Haushalt und Nachkommenschaft - herauslöst. Während die verliebte Felice Schragenheim letzte Fluchtchancen ins Ausland ignoriert, sich der Geliebten als Jüdin zu erkennen und damit völlig in die Hand gibt. Zu einer privaten Idylle unter Ausschluß der Öffentlichkeit taugt diese liaison dangereuse nicht. Genau das macht sie so außergewöhnlich. Auch Max Färberböcks filmische Adaption frei nach der Buchvorlage schafft ein differenziertes Bild des späten Nazi-Deutschland. "Ich habe die Geschichte nicht einfach abgeschrieben, weil ich hundertprozentig davon überzeugt bin, daß man weder aus der Wirklichkeit noch aus Romanen etwas übernehmen kann, sondern daß man es neu erfinden muß."

Auf diese Weise gelingt Färberböck das Kunststück, aus der komplexen, faktenreichen Chronologie der Liebesgeschichte wirklich großes Kino zu machen. Es ist so spannend wie sinnlich, so humorvoll wie unversöhnlich. Mit Maria Schrader als Felice und Juliane Köhler als Elisabeth sind zwei phantastische Könnerinnen am Werk. Hervorragend auch die Besetzung von Detlev Buck als Lillys tumbem Ehemann, Johanna Wokalek und Heike Makatsch als Felices Freundinnen. In Nebenrollen glänzen unter anderem Rosel Zech, Margit Bendokat, H.C. Blumenberg und Peter Weck.

Zu Filmbeginn zieht die greise Lilly Wust ins Altersheim. "Letzter Blick zurück?" fragt die Betreuerin. Doch die sehr gefaßte Dame (Inge Keller in ihrer letzten Rolle) dreht sich nicht mehr um - als wäre ihr Abschied von der alten Welt schon viel früher geschehen. Die Liebesgeschichte von Lilly und Felice ist unlösbar mit dem nationalsozialistischen Terror verbunden, der sie bald zerstörte. Er ist im Film zwar stets präsent, zum Hauptthema gerät er jedoch nicht. Das Dritte Reich bildet die zufällige Folie für die wundersame Romanze, die jederzeit hätte passieren können und dann in einem denkbar schlechten Moment geschah.

Mit eindringlichen Bildern (Kamera: Tony Imi) fixiert Färberböck das große Glück der beiden Frauen historisch konkret und befreit es doch auch immer wieder aus Zeit und Raum. Es gibt fiese Nazi-Visagen, ausgebombte Häuser, ein brennendes Klavier auf der Straße. Lotte (Elisabeth Degen), eine jüdische Freundin Felices, wird sofort erschossen, als sie bei einer Ausweiskontrolle flieht. Einmal bekommt Lilly überraschend Elternbesuch, weshalb sich ihr Noch-Liebhaber versteckt. Nichtsahnend schimpft der Vater über die Regierung. Worauf ihm der Offizier prompt mit Anzeige und Konzentrationslager droht.

In der Darstellung des allgegenwärtigen Horrors erzählt Färberböck immer wieder beiläufig und kommentarlos von latenter Angst und Gefährdung, Bespitzelung und Denunziation. Lilly hat irgendwie eine Thüringer Wurst besorgt und teilt sie im dunklen Hausflur mit einer Freundin. Plötzlich erweitert sich der Bildausschnitt. Reglos sitzt ein Soldat im Treppenhaus und schaut den beiden zu. Sie gehen schnell in getrennte Richtungen auseinander. Es herrscht Krieg nach innen und nach außen. Das Sterben ist alltäglich geworden.

Und trotzdem: Es gibt ein Leben vor dem Tod - nicht mehr und nicht weniger will dieser Film über die ekstatische, überwältigende Leidenschaft zweier Frauen vermitteln. "Wenn ich daran denke, daß ich Jahre vertan habe! Du weißt, daß Du meine bisherige Welt zum Einstürzen gebracht hast (es tut mir, weiß Gott, nicht leid)", schreibt Elisabeth. Und Felice, kokett, im beiderseitigen "Ehevertrag": "Ich werde mich nicht mehr nach hübschen Mädchen umsehen, höchstens um festzustellen, daß Du hübscher bist. (...) Ich werde nicht dagegen protestieren, daß Du für mich sorgst. (...) Ich werde Dich immer lieben."

Es gibt wenige Filme, in denen homosexuelle Frauen Hauptrollen spielen, und noch weniger, in denen die elementare Macht der Sexualität glaubwürdig erscheint. Um so bemerkenswerter, wie souverän Färberböck die Konventionen überwindet. "Aimée und Jaguar" ist voll obsessiver Erotik und maßloser Lust, die für das ungleiche Paar wenigstens zeitweise Pogrom und Krieg marginalisieren. Maria Schrader und Juliane Köhler spielen die grandiose Lebensfreude und Sinnlichkeit mit hinreißender Verve. "Ich will jede Menge 'Jetzt'", ruft Felice beim Kartenspiel mit Frau und Freundinnen. Die Kamera umkreist das Grüppchen im Kerzenlicht.

Felices Maxime - "Für mich gibt es nichts Selbstverständliches" - schließt auch die Selbstverständlichkeit der Opferrolle aus. Als es für sie um 1936 schon längst nichts mehr zu lachen gab, reimte sie: "Ich liebe Theater, ich liebe Klabund, / und außerdem finde ich Lachen gesund. / Die andern Leute nennen tatsächlich / diese Einstellung oberflächlich; / ob das stimmt, sei dahingestellt - / mich freut noch manches auf dieser Welt."

Am 21. August 1944 machen die beiden Frauen einen Badeausflug. Erstmals werden die gedämpften Farben des Films kräftig, leuchtend blau der Himmel, die Wolken strahlend weiß. Am Abend wird Felice verhaftet. Über Theresienstadt und Auschwitz verliert sich ihre Spur. Die Soldatenwitwe Lilly Wust heiratet 1950 wieder, um die Kinder zu versorgen, läßt sich bald scheiden und bleibt ab dann mit ihren Erinnerungen allein. Sie paßte nicht mehr in die Gegenwart.

"Die Masse denkt nach wie vor braun, wie sich die Deutschen selber ausdrücken", schrieb Janet Flanner nüchtern 1947 aus Berlin. "Das neue Deutschland ist nur der Überrest des toten Hitlerdeutschland."

"Aimée und Jaguar". BRD 1998. R: Max Färberböck. D: Maria Schrader, Juliane Köhler, Johanna Wokalek, Heike Makatsch, Inge Keller, Detlev Buck u.v.a. Start: 11. Februar

Erica Fischer: Aimée und Jaguar. Eine Liebesgeschichte, Berlin 1943. dtv, München 1998, 360 Seiten, DM 16,90