Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Stefan Gerhardt ist Buchautor

Das Fernsehgerät (ein quietschgelber Portable mit schwarz-metallener Optik einer damals auf dem Gebiet der Unterhaltungselektrik - als es noch nicht -elektronik hieß - führenden Fürther Elektrofirma) stand im Wohnzimmer eines Coburger Demonstrativbauprogramms (das hieß wirklich so!) namens "Heimatring". Es stand auf einer Musiktruhe. Ich saß unterm Eßtisch. Vater hatte Bier aus dem Stauraum unter der Kellertreppe geholt. Was trank ich? Soviel ich weiß, trank ich mit. Mit 15?

Zur zuverlässigen Rekonstruktion seien die spar(!)samen Tagebuchaufzeichnungen herangezogen, notiert im Werbekalender der Astra-Werke Chemische Fabrik Brackwede (Westfalen), die inzwischen den Weg alles Chemischen gegangen ist und sich aufgelöst hat:

"Früh noch Schule, war's mir am Nachmittag, nachdem ich mir die Reader's Digest-Hefte vom Großvater geholt hatte, völlig komisch im Kopf. Ich mußte mich hinlegen. Abends dann, 19 Uhr 30, die Be-Err-De gegen die De-De-Err. Ekel Alfred sagte noch: 'Diesen Samstag wird sich zeigen, wer die richtigen Deutschen sind.' Wir sind die falschen. Tja, Gerd, Jürgen, Sepp, eine Blamage. Schade."

Was sich vermeintlich nüchtern, sachlich, ja gänzlich unpolitisch und nur mäßig emotionsgeladen liest, war quasi die physikalische Summe zweier Wellenberge: Enttäuschung und Häme, die fast deckungsgleich (vgl. "Schade") zum Ausdruck kamen.

Enttäuschung, weil es meinem großen Idol, Jürgen Grabowski, nicht gelang, drei sogenannte glasklare, ja hundertprozentige Torchancen zu verwerten (O-Ton damals wie heute: "Den muß er reinmachen!"), seinem Namensvettern dagegen nach seinem halben Tor gegen Australien diesmal ein ganzes gelang.

Häme, weil dieses Tor allen west-deutschen Wirtschaftswunder-Protzkisten und ihren Großreinemache-Frauen (O-Ton damals: "Geh doch rüber in die Ostzone, wenn dir's hier nicht gefällt. Aber da wirst du dich umschauen - die langen Haare kommen bei denen als erstes runter!") nicht nur die Appetithappen vom Brot nahm, sondern die Butter gleich mit runterstrich, ja bekam nicht Mutter einen Hustenanfall, weil ihr die Krümel in den falschen Hals geraten waren?

Mir war klar: Das ist das, was die uns im Unterricht immer als "Waterloo" geschildert hatten. Gewissermaßen der fußballerische Sputnik-Schock für die Bundesrepublik.

Und heute, ein Vierteljahrhundert später - wiederholt sich Geschichte? - Im Kern? - und nur der Mantel ist ein anderer? - bzw. ist der Mantel der Geschichte mit einem T-Shirt unterfüttert? - mit einem Nationaldress? - nicht mehr nur L (1 Tor) - sondern diesmal schon XXL (3 Tore)? - heißt die DDR jetzt USA?

Aber das konnte Jürgen Sparwasser beim besten Willen nicht geahnt haben, damals, als er ein klaffendes Loch in die hochglanzpolierte westdeutsche Torwand schoß.