Épater le bourgeois

Einst obskures Objekt der Begierde für die Avantgarde, heute Bestandteil jeder Talkshow. Todd Solondz und François Ozon erproben die Möglichkeiten des Tabubruchs Ende der Neunziger.

"1998 werde das Jahr von 'Verrückt nach Mary', 'Happiness' und Monica Lewinskys Kleid, stellte mich einmal eine Moderatorin auf einem Uni-Panel vor", erzählt Todd Solondz vor einer Gruppe von Journalisten im Hamburger Hotel "Atlantik". Er gilt als schwierig, und mit seiner kieksigen Stimme, dicken Woody Allen-Hornbrille und spackigen Modeverweigerung sieht er selbst aus, als sei er direkt einem Set der Farrely-Brüder enstiegen - oder der kleinstädtischen High-School-Hölle seines eigenen Films "Willkommen im Tollhaus". Der Erwartung, als Freak vorgeführt zu werden, begegnet er mit höflicher, auf Understatement bedachter Zurückhaltung.

Solondz hat allen Grund zur Ruhe. "Happiness" ist neben "Das Fest" der bisher aufregendste Film des jungen Kinojahrs. Wie Vinterbergs "Fest", aber auch Fran ç ois Ozons "Sitcom", bewegt er sich im Spannungsfeld von Familien-Melodrama und einer wieder zu Ehren gekommenen Ästhetik des Tabubruchs, der Geschmacklosigkeit und der öffentlich zur Schau gestellten intimen Details - ohne jedoch Vinterbergs paternalistischer Konzeption von Familie nachzuhängen. Trotz aller Bösartigkeit, die uns aus Solondz' "Willkommen im Tollhaus" wohlvertraut ist, gerät "Happiness" zu einer gerade in seiner Psychologie überzeugenden Studie über Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Intimität. Mit Kenneth Starr und "Verrückt nach Mary" hat der Film allenfalls die skandalträchtige Inszenierung von Spermaspritzern gemein, nicht aber deren Voyeurismus und ressentimentgeladenen Anti-Political-Correctness-Appeal im Zeichen der Selbstpartikularisierung des von minoritären Positionen ausgeschlossenen White-Trash.

"Happiness" kreist um das Leben dreier Schwestern in New Jersey, ihrer Familien, Freunde, Kollegen und Nachbarn. Zu Beginn trennt sich das noch bei ihren Eltern lebende, erfolglose Hippiemädchen Joy von ihrem Schwarm Andy. Sie sitzen während einer quälend langen Halbtotale in einem Restaurant mit Hawaii-Dekoration, ihre Stimmen überschlagen sich fast vor Hilflosigkeit, ein Gefühl der peinlichen Berührtheit kommt auf. "Is it someone else?" fragt Andy, der der Nichtraucherin Joy die Reproduktion eines kitschigen Aschenbechers aus dem späten 19. Jahrhundert schenken wollte. "No, it's just you", antwortet Joy und glaubt, ihm damit noch einen Gefallen zu tun.

Humanität und Demütigung liegen in "Happiness" nahe beieinander, und Solondz' Drehbuch bordet über vor derartigen Pointen. "I am not laughing at you, I am laughing with you," versucht Joys Schwester Helen sie später einmal zu trösten. "I am not laughing," entgegnet Joy verdutzt nach einer Pause.

Die erfolgreiche Helen schreibt Gebrauchslyrik in Bänden mit Titeln wie "Pornographic Childhood". Sie denkt darüber nach, "in a state of irony" zu leben, und wünscht sich, vergewaltigt worden zu sein - der "Authentizität" wegen. Trish, die dritte von ihnen, gibt ihren Schwestern Ratschläge, wie sie in Frauenzeitschriften stehen, und glaubt zu wissen, was "to have it all" bedeutet: die Idylle zwischen Küche, Elternabend und der Ehe mit Bill (Dylan Baker), einem Psychiater, der heimlich über Jungsmagazinen onaniert. So, wie sie selbst nur in Anführungszeichen spricht, dient ihre ständige Anteilnahme am Leben anderer allein der Selbstvergewisserung, die ihr die Frustrationen der anderen verschaffen.

Um diese Personen gruppiert Solondz einen nicht minder grotesken Reigen des Scheiterns und der nichterfüllten Wünsche. Der stoische, des Lebens überdrüssige Vater der drei - grandios im apricotfarbenen Polohemd: Ben Gazzara - hat gerade seine Frau nach 40 Ehejahren verlassen. Als ihn seine ebenfalls gelangweilte Gespielin nach dem Geschlechtsverkehr fragt: "Do you feel guilty, now?" antwortet er nur: "No, I don't feel ... anything." Seine Frau (Siebziger-Jahre-Sitcom-Star Louise Lasser) bricht im Maklerbüro in Tränen aus, fürchtet an der Trennung aber hauptsächlich, daß ihr frisches Facelifting darunter leiden könnte.

Als eigentlicher Motor der Konflikte erweist sich die Beziehung zwischen Trishs Mann Bill und ihrem pubertierenden Sohn, den das Ausbleiben des ersten Samenergusses und die sexuellen Prahlereien der Schulkameraden umtreiben. Aber in Bill findet er einen verständnisvollen Vater, dessen liebevolle Art aber in keinem Verhältnis zu der Reihe von Vergewaltigungen steht, die er an den Freunden seines Sohnes begeht und deren Bekanntwerden den dysfunktionalen Familienkosmos zum Kollabieren bringt. Die Weigerung, derartige Widersprüche menschlicher Intimität psychologisch vereindeutigen zu wollen oder gegen ihre Protagonisten auszuspielen, macht neben all dem grotesken Humor die vielleicht größte Stärke von "Happiness" aus.

Wo Solondz in "Willkommen im Tollhaus" die Schrecken der Pubertät und des Kleinstadtlebens noch durch die zentimeterdicken Brillengläser seiner Dawn Weiner bündelte, zeigt er in "Happiness" ein ganzes Pandämonium von Psychopathologien des Alltags, für das er genau jene episodisch-verschachtelte Form gewählt hat, in der sich die Suburbia bereits spiegelt: die der Sitcom. Von der an Robert Altman erinnernden virtuosen Konstruktion der verschiedenen Subplots einmal ganz abgesehen, hat der sich in Musik und einer extrem statischen Kameraführung fortsetzende TV-Bezug einen extrem verstörenden Effekt: Er "entlarvt" nicht nur, sondern schafft einen Raum, in dem die Komplexität seiner Charaktere gewahrt bleibt, um dennoch im Exzeß der Klischees wenigstens subjektive Wahrheiten freizulegen. Selbst der notorische Päderast bekommt in "Happiness" so seinen mit romantischer Musik unterlegten, schmachtenden Blick auf das Objekt seiner Begierde.

"Der Film mag auf viele Leute sehr komisch wirken, obwohl es darin keine Witze gibt", sagt Solondz. "Manchmal werde ich gefragt, wie man nur Filme über so häßliche Figuren machen kann. Ich glaube aber nicht, daß sie häßlich sind. Das sagt mehr über die Fragenden aus als über den Film. Die Charaktere sind vielleicht nicht glamourös, aber ich fühle mich allen gegenüber emotional verbunden."

Schon vor seinem Kinostart, spätestens seit dem letztjährigen Cannes-Festival, ist "Happiness" ein Politikum, das seine Schatten vorauswirft. "Happiness", "der verständnisvolle Film über Päderastie", steht neben "Verrückt nach Mary" und Thomas Vinterbergs und Lars von Triers Dogma 95-Produktionen sowie Gaspar Noés großartigem "I Stand Alone" (der in Deutschland immer noch keinen Verleih hat) in einer Reihe neuerer "Skandal"-Filme. Solondz' Film machte nicht zuletzt dadurch von sich reden, daß er von seinem Studio ohne längere Änderungsdebatte fallen gelassen wurde - nicht nur, weil darin zweimal Ejakulat zu sehen ist. "Universal, der Eigner von October Films", wird Solondz nicht müde zu betonen, "hat entschieden, daß der Film nicht für ihr Image geeignet sei, und zwar komplett. Ich bin mir sicher, daß sie den Film 'moralisch mutig' gefunden hätten, wenn sie mit ihm 100 Millionen Dollar hätten verdienen können. Die einzige Moral, die es in Hollywood gibt, ist der Profit. Der einzige unabhängige Filmemacher, den ich kenne, ist deshalb Steven Spielberg. Wenn es nicht mutig gewesen wäre, einen Film wie 'Happiness' zu drehen, hätte ich nicht meine Telefonnummer ändern müssen."

Der Appell an den Schau- und Sensationswert des Skandals stößt heute aber auf einen komplett anders konfigurierten Mainstream als noch zu Zeiten Bergmans oder Bu-uels. Das Nein des Zensors, das damals die progressive Ausrichtung des ƒpater le bourgeois gewährleistete, ist längst einer regulierten, repressiven Entsublimierung gewichen, bei der es nicht nur nichts gibt, was nicht repräsentiert werden kann, sondern bei der unablässig repräsentiert werden muß. Der Tabubruch ist so zum vielleicht letzten konservativen Anliegen geworden.

"Ich weiß nicht, ob Thomas Vinterberg, Lars von Trier oder Garspar Noé schocken wollen", räumt Solondz ein. "Das sind alles sehr gute Filme von sehr talentierten Filmemachern. Aber ich glaube, uns geht es jeweils um eine andere Art des Filmemachens. Meine Motivation war ganz sicher nicht, zu schokken, obwohl ich verstehen kann, daß Leute geschockt waren. Das liegt sicher nicht am Thema. In meinem Film gibt es nichts, was man nicht jeden Tag im Fernsehen sehen könnte. All diese Dinge wie Pädophilie, Telefonsex, usw. werden jeden Tag im Fernsehen oder den Boulevardzeitungen diskutiert. Ich glaube, was die Leute schockt, ist, daß diese Dinge in 'Happiness' ein menschliches Gesicht haben. Daß der Pädophile nicht 'anders' ist, sondern daß der Regisseur sagt, daß er oder sie einer von uns ist. Für mich sind die Themen des Films eher Einsamkeit und Begehren. Isolation. Entfremdung. Der Kampf um Intimität."

Hinsichtlich der Intimität versagt sich Solondz jeden Sensationalismus, aber auch jede Romantik: Nicht nur in den schmerzhaft aufrichtigen Gesprächen zwischen Psychiater Bill und seinem Sohn, in denen 'Happiness' seine Qualitäten als Schauspielerfilm nicht zuletzt durch Dylan Baker herausstellt, sondern auch in der Romanze zwischen dem Spanner Allen (Philip Seymour Hoffman, "Boogie Nights") und seiner traumatisierten Nachbarin Christina (Camryn Manheim), die ihren Vergewaltiger in der Badewanne zerstückelte. Die Nähe, die sich zwischen ihnen einstellt, mag von ihrer Not sprechen, von Übergewicht, Klassenzugehörigkeit, Einsamkeit, sexueller Frustration und von Begrenzungen und Bedingungen, die von Anfang an gelten. Wenn sie aber unbeholfen und nach einem großen Eisbecher dann doch tanzen oder nebeneinander angezogen im Bett einschlafen, erlaubt ihnen Solondz gänzlich pathosfreie Momente von Sinn und Zärtlichkeit.

Anders Fran ç ois Ozons französisches Spielfilmdebüt "Sitcom", "eine Komödie jenseits aller Tabus" (Presseheft), die sich als exaltiert-grelles Bürgerschreck-Kino bemüht campy irgendwo zwischen dem späten Bu-uel, Pedro Almodovar und John Waters abarbeitet - damit aber kaum mehr als müdes Gähnen provozieren kann. Einmal mehr wird darin deutlich, daß das Ziehen aller Register des Verbotenen nicht schützt vor dem Absturz in die Beliebigkeit - gegen die es ja so lautstarkt protestiert - und bisweilen sogar einen reaktionären Dreck hervorbringt. Nach dem Kauf einer Laborratte als Haustier geht es hier vor großbürgerlicher Kulisse drunter und drüber: Der spießige Sohn wird schwul und organisiert Orgien vor der Südseetapete des Jugendzimmers, seine Mutter ahnt, daß ihr Sprößling nur mal gut von einer Frau gefickt gehört - natürlich von ihr -, während die nach Suizidversuch an den Rollstuhl gefesselte Tochter ihre Frustration mit S/M-Spielchen bekämpft und Papa veführen will. Nachdem all das durchdekliniert ist, steht nur noch der kollektive Vatermord an.

Ozon greift dabei, Solondz nicht unähnlich, erzählerische Konventionen der Sitcom auf und läßt fragmentierte Episoden auf sich steigernde "Geschmacklosigkeiten" zusteuern, die bei ihm noch ein wenig durch den surrealistischen Metaphernwolf gedreht werden. Ärgerlich daran ist, daß "Sitcom" als Auslöser für die Transgression vermeintlich bürgerlicher Wertvorstellungen nicht nur das possierliche Haustier braucht, sondern dazu auch noch die "rassige" spanische Haushälterin und ihr schwuler afrikanischer Mann herhalten müssen, auf daß dümmste Klischees Urständ feiern. Die Unzeitgemäßheit derart ödipaler Provokationen muß auch der am Ende von seiner Familie gemeuchelte Vater geahnt haben, als er in der einzig komischen Szene des Films auf das Coming-out seines Sohns gelassen mit Foucaultschen Ausführungen zum Umgang mit Homosexualität in der Antike reagiert.

Wie sich allerdings in diesem Sinne über Sexualität und Intimität reden ließe, ist eher aus "Happiness" zu erfahren.

"Happiness". USA 1998, R: Todd Solondz, D: Dylan Baker, Lara Flynn Boyle, Ben Gazzara, Jane Adams. Start: 18. März

"Sitcom". F 1998, R: François Ozon, D: Evelyne Dandry, François Marthouret, Marina de Van. Start: 25. März