Die offizielle Version

Ein Pariser Gericht hat das Massaker der von Ex-Kollaborateur Maurice Papon befehligten Polizei im Jahr 1961 untersucht

"Im Oktober 1961 gab es ein Massaker, das von Polizeikräften durchgeführt wurde, die unter dem Befehl von Maurice Papon handelten." - Mit diesem Satz hatte Jean-Luc Einaudi an eines der wirkungsmächtigsten Tabus der jüngeren französischen Geschichte gerührt und einen Prozeß ausgelöst, an dessen Ende die bislang gültige Darstellung der gewaltsamen Niederschlagung einer Protestkundgebung algerischer Immigranten korrigiert werden muß.

Als der Beschuldigte, Maurice Papon, gegen den Verfasser des am 20. Mai 1998 in Le Monde veröffentlichten Artikels klagte, glaubte er, die offizielle Geschichtsschreibung auf seiner Seite zu haben. Die 17. Strafkammer des Pariser Gerichts entschied jedoch am vergangenen Freitag, daß die von Jean-Luc Einaudi vorgebrachten Fakten diese Version widerlegen, und sprach ihn vom Vorwurf der "Diffamierung eines Staatsbeamten" frei.

Der Name Maurice Papon ist der französischen Öffentlichkeit bislang allerdings aus einem anderen Zusammenhang bekannt: Papon, der in dem von Nazideutschland besetzten Bordeaux als Generalsekretär arbeitete, war erst im April 1998 von einem französischen Gericht wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu zehn Jahren Haft verurteilt worden (die er aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten mußte). Das Gericht in Bordeaux befand ihn für schuldig, die Deportation von 1 700 Juden in die Vernichtungslager organisiert zu haben.

Papon hatte es jedoch verstanden, rechtzeitig vor dem Zusammenbruch des Besatzungssystems Kontakte zu gaullistischen Résistancekreisen zu knüpfen, die in der Folgezeit karrierefördernd wirken sollten. Deshalb endete die Laufbahn Papons erst im Jahr 1981, nachdem er drei Jahre als Budgetminister der bürgerlichen Giscard-Regierung tätig war.

Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre - auf dem Höhepunkt des Algerien-Kriegs - war Papon Pariser Polizeipräfekt. Zuvor war er als "Generalinspektor der Verwaltung in außerordentlicher Mission" in der ost-algerischen Region um Constantine im Einsatz, wo sich eines der Zentren des Widerstands der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN befand. Dort brachte der Generalinspektor die Behörden im östlichen Algerien auf Linie. Vor der 17. Strafkammer des Pariser Gerichts charakterisierte Jean-Luc Einaudi das Vorgehen Papons in Algerien mit den Worten: "Maurice Papon zielte darauf ab, die Repressionen gegen den FLN auf die gesamte Bevölkerungsgruppe auszuweiten."

Um Proteste der algerischen Immigranten in Paris zu unterdrücken, ließ der Polizeipräfekt Papon Razzien gegen Personen mit "nordafrikanischen Gesichtszügen" durchführen und Internierungslager einrichten, zunächst im Vel' d'Hiv', dem Stadion Vélodrome d'Hiver, wo im Juli 1942 die Pariser Juden vor ihrem Abtransport in die Vernichtungslager zusammengetrieben worden waren. Jean-Luc Einaudi betonte vor den Richtern die Kontinuität zwischen dem Handeln des Nazi-Kollaborateurs und des Polizeipräfekten Papon.

Ab 1959 ließ Papon ein weiteres Internierungszentrum im Pariser Vorort Vincennes einrichten. In dieses Lager wurde ein Teil der algerischen Demonstranten transportiert, als am 17. Oktober 1961 eine Demonstration der Immigranten gegen die von Papon über sie verhängte Ausgangssperre mit großer Brutalität unterdrückt wurde. Drei Wochen später, am 6. November 1961, waren die Demonstranten noch immer interniert. Allerdings fand eine Delegation des französischen Parlaments an jenem Tag von insgesamt 1 710 Internierten nurmehr 1 500 Personen vor.

Eindeutige Erkenntnisse über den Verbleib der übrigen gibt es bis heute nicht; sicher ist jedoch, daß noch Wochen später Leichen von Menschen nordafrikanischer Herkunft aus der Seine geborgen wurden. Sicher scheint auch, daß rund 50 der verhafteten Demonstranten im Innenhof der Polizeipräfektur erschlagen oder durch Schläge verletzt und anschließend in die Seine geworfen wurden.

Das Polizeimassaker vom 17. Oktober 1961 und die Rolle, die Papon dabei spielte, kam bereits im Prozeß von Bordeaux zur Sprache, diente in diesem Zusammenhang jedoch lediglich dazu, die Persönlichkeit und Biographie des Angeklagten besser zu erfassen. Immerhin hatte Einaudis damalige Zeugenaussage Innenminister Jean-Pierre Chevènement dazu veranlaßt, einen Untersuchungsbericht in Auftrag zu geben. Der Richter am Staatsgerichtshof, Dieudonné Mandelkern, sollte die Archive der Pariser Polizeipräfektur im Zusammenhang mit dem 17. Oktober 1961 auswerten und einen Bericht erarbeiten.

Der im Frühjahr 1998 veröffentlichte "Mandelkern-Bericht" kam zu dem Schluß, daß zwar "sehr harte Repressionen" ausgeübt worden seien, die Zahl der Opfer aber keineswegs mehrere Hundert Menschen betrage. Von annähernd 300 Opfern hatte dagegen Einaudi im Prozeß von Bordeaux gesprochen, Mandelkern bezifferte die Zahl auf 32. Papon selbst hat im Laufe der Zeit immer wieder unterschiedliche Angaben gemacht: Während er in seinen 1988 erschienenen Memoiren noch die damals offizielle Version - drei Tote - vorbrachte, gab er vor Gericht in Bordeaux die Zahl mit "15 bis 20" an. Die Getöteten seien jedoch zumeist Opfer von "Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen des algerischen Nationalismus" gewesen, hatte Papon beschwichtigt. Vor den Pariser Richtern bequemte er sich zu dem Zugeständnis, 30 Tote seien es schon gewesen, womit er vermutlich die Version des Mandelkern-Berichts übernahm.

In seinem ausführlichen Beitrag für Le Monde, der den jetzt abgeschlossenen Prozeß ausgelöst hatte, zerpflückte Einaudi sowohl die Darstellung Papons als auch den Mandelkern-Bericht, der sich ausschließlich auf Dokumentationen stütze, die sowohl "parteiisch" - da von der Polizeipräfektur selbst erstellt - als auch "unvollständig" seien. So wurden die Archive der Wasserschutzpolizei in den letzten Jahren zerstört, ebenso sind die Archive des "Koordinationsdienstes für die algerischen Angelegenheiten" verschwunden, und auch die Unterlagen des Internierungszentrums von Vincennes fehlen.

Einaudi wies nach, in welchen Passagen der vom Innenministerium angeforderte Bericht die damals gültige Version der Ereignisse übernommen hat, z.B. die Behauptung, auf der Demonstration vom 17. Oktober seien "Schüsse (auf beiden Seiten) gefallen". Zeugen bestätigen dagegen, daß die Demonstranten - auf Anordnung des FLN - unbewaffnet waren und auch kein Polizist mit Schußverletzungen registriert worden sei.

Einaudi hat sich seit mehreren Jahren mit der Demonstration am 17. Oktober befaßt. Bereits 1991 veröffentlichte er dazu ein Buch unter dem Titel "La Bataille de Paris". Damals hatte Papon keine Klage gegen die Darstellung Einaudis erhoben, doch wahrscheinlich ging es ihm ohnehin weniger um die "Richtigstellung" der Ereignisse vom Oktober 1961, sondern darum, durch ein Gerichtsurteil zu seinen Gunsten Punkte für seinen in wenigen Monaten beginnenden Berufungsprozeß gegen das Urteil von Bordeaux zu sammeln.

Offizielle Bestätigung hat die Darstellung Einaudis sowohl durch den Staatsanwalt als auch durch den Richter erfahren. Der Staatsanwalt Vincent Lesclous hatte am letzten Prozeßtag anerkannt, daß man die Ereignisse am 17. Oktober 1961 als "Massaker" bezeichnen könne. Allerdings plädierte er dafür, Einaudi aus prinzipiellen Erwägungen wegen Diffamierung Papons zu belangen, da dieser nicht in einem "persönlichen Werturteil" für die Taten verantwortlich gemacht werden könne, da diese in einem Klima der Gewalt geschehen seien.

Die Richter folgten dieser Argumentation nicht und sprachen Einaudi frei. In ihrer Urteilsbegründung heißt es: "Wenn man zugibt, daß die offizielle Version der Ereignisse von 1961 weitgehend von der Staatsräson abhängig war (...), und daß die extreme Härte der Niederschlagung aus heutiger Sicht eine Beurteilung hervorrufen muß, die den Gebrauch des Wortes 'Massaker' nicht ausschließt, dann kann man einem Historiker, dessen gewissenhafte und seriöse Forschungsarbeit außer Frage steht, nicht vorwerfen, daß er in einem Abschlußsatz die Fakten interpretiert und in scharfer Form einen Verantwortlichen benennt."