Die Schindler-Dramaturgie

Identifikation mit dem Opfer, um Aggressor zu werden. Über den Nato-Einsatz gegen Auschwitz.

Während Ostern seit je Wagners "Parsifal" gegeben wird, bringt das österreichische Fernsehen nun zusätzlich am Karfreitag "Schindlers Liste". Erlöst der "reine Tor" auf der Bühne durch bloße Keuschheit die Gralsritter von der "ewigen Jüdin" Kundry und rettet den heiligen Gral, so zeigt der reine Unternehmer am Bildschirm den Weg der Erlösung, indem er einfach nur seinen Geschäften nachgeht und dabei viele Juden retten kann.

Auf dem anderen Sender gibt es derweil Berichterstattung über die Nato-Angriffe in Jugoslawien - und der Sprecher weist wie selbstverständlich auf den laufenden Film hin, um den Zusehern das Bombardement mit entsprechendem Nachdruck ans Herz zu legen. Auf einer Pressekonferenz dieser Tage, die Joseph Fischer, Rudolf Scharping und Gerhard Schröder zusammen mit Albanern, die gerade aus dem Kosovo gekommen sind, geben, illustriert ein albanischer Dolmetscher die Lage im Kosovo, indem er ebenfalls explizit auf "Schindlers Liste" Bezug nimmt.

Beinahe freiwillig enthüllt Andrei S. Markovits in der taz die ganze Schindler-Dramaturgie der Berichterstattung, wenn er seine Haltung zum Nato-Einsatz begründet, und dabei doch nur Assoziationen wiedergibt: "Und plötzlich tauchen dann die Züge auf unseren Bildschirmen auf, mit ihren offenen Fenstern, aus denen Tausende Arme und Köpfe verzweifelt herausragen, und die Bilder der Nazizüge, die die Juden Europas in die Vernichtungslager brachten, kehren ins Bewußtsein zurück. (Ö) Für mich sind die Parallelen zum Zweiten Weltkrieg sowohl visuell als auch emotional - wenn auch nicht unbedingt historisch analytisch - auf allen Seiten dieses furchtbaren Kriegs allgegenwärtig. Dieser Eindruck wird von der Legitimationsrhetorik der Nato noch bestärkt." (Wer hätte das gedacht.)

Markovits versetzt sich mit geradezu bewundernswerter Offenheit in die erwünschte Rezeptionshaltung. Statt die empfangenen Eindrücke und Identifikationsangebote zu reflektieren und vielleicht ein wenig historisch-analytisch nachzudenken, wird den Bildern absolute Priorität eingeräumt. Sie sind die expressive Seite der Menschenrechte, hauchen den Abstraktionen Leben ein und treten an die Stelle derer, von denen abstrahiert wird. Markovits schließt seinen Artikel mit dem Satz: "Inzwischen aber leben die Bilder des Zweiten Weltkriegs ungehindert fort."

Steven Spielberg hat für die "Vergangenheitsbewältigung" und den Wiedereintritt Deutschlands ins Kriegsgeschehen offenkundig eine ganz ähnliche Rolle übernommen wie die Nato: Man braucht in Deutschland die Vereinigten Staaten - ihre Militärmacht wie ihre Kulturindustrie - , um sich auf seine eigene Vergangenheit so beziehen zu können, daß man möglichst unauffällig selbst den Weg zur Weltmacht anzutreten vermag.

Ebensolche Dienste, wenn auch kleiner dimensioniert, leisten kulturell und militärisch die europäischen Bündnispartner: Roberto Benignis rührende KZ-Klamotte gestattet die ungebrochene Identifikation mit den Opfern, während das permanente Säbelgerassel von Tony Blair und Robin Cook es erlaubt, sich zurückhaltend und still auf die Führungsrolle vorzubereiten. Mit der notwendigen Gabe der Einfühlung beschreibt die Zeit den kompliziert gewordenen Seelenhaushalt des nationalen Subjekts: "Das ist mein Krieg. Ein Satz, der vieles verändert, für das Land, für den Kanzler, der bittere, deprimierende Tage erlebt. Ende der Inszenierung. Brav folgt er der Allianz, aber ohne Auftrumpfen."

Die Berliner Republik, wie Schröder sie ursprünglich auftrumpfend wollte, mit dem "Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die (ohne Mahnmal) ihre Interessen nicht länger auf dem Altar der Vergangenheit opfert", sie war nicht unbedingt nach dem Geschmack der liberalen Bürger. Auf dem Altar der Vergangenheit soll vielmehr für den neuen Krieg gebetet werden. Und hierfür ist Fischer der richtige Mann - geschult wie kaum einer unter den Regierenden in den national-religiösen Riten der Vergangenheitsbewältigung und der Trauerarbeit. "Die europäische Einigung stehe an erster Stelle unseres nationalen Interesses", zitiert die Zeit Fischer und fügt befriedigt hinzu: "Ein guter Satz, ein Programm ohne Beispiel."

Stellt ein Fernsehjournalist dem Außenminister Fragen rein strategisch-technischen Sinns über den Nato-Einsatz, so antwortet dieser sofort mit weltanschaulichem Sinn, verweist auf die Greuel dieses Jahrhunderts in Europa, um die Konzeption Großserbiens mit der Großdeutschlands gleichzusetzen, und sagt wörtlich, die serbische Sonderpolizei sei "gewissermaßen die SS", woraus folgt: Milosevic ist gewissermaßen Hitler, die Serben sind gewissermaßen die Deutschen. Ebenso verwendet Scharping durchgehend das Vokabular des Holocaust, wenn er die Taten der Serben charakterisiert, und spricht bei jeder Gelegenheit von "Selektion" und "Konzentrationslagern" im Kosovo.

Das mag zum einen Teil eine bewußte Argumentationsstrategie sein - also reine Propagandamaßnahme -, zum anderen, unbewußten Teil aber ist es eine geradezu zwanghafte Projektion. Und der Einwand, daß auch Clinton und die europäischen Verbündeten die Gleichsetzung von Milosevic und Hitler betreiben (auch Le Monde bemühte den Vergleich mit dem "Dritten Reich"), verfehlt genau diesen zwanghaften Charakter, der ihr bei den Erben des Nationalsozialismus zukommt und zum nationalen Surplus der deutschen Aggression gehört. Wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe.

Mehr als alle andern, selbst mehr als die Journalisten, stehen offensichtlich Fischer und Scharping unter diesem Druck, Vergangenheitsbewältigung am anderen Objekt zu betreiben, auf die deutsche Vergangenheit in diesem Jahrhundert zu rekurrieren, wenn sie über die gegenwärtigen Angriffe der Deutschen reden, von Hitler zu sprechen, wenn es um Milosevic geht. Als Motto könnte über all ihren Statements stehen: "Gerade wir als Deutsche haben die besondere Pflicht, ein zweites Auschwitz zu verhindern." Was unter diesem Motto aber stattfindet, ist eine Art Unschuldsumkehr: Identifikation mit dem Opfer, um Aggressor zu werden.

Die Verteidigung der eigenen, der deutschen Kultur und der selbst erkämpften, sozialen Errungenschaften war es, die einst die Arbeiterbewegung und die Linke kriegstauglich gemacht hat. Mit der Berufung auf den eigenen sozialen und kulturellen Standard ließ sich im Ersten Weltkrieg der Burgfrieden herstellen. Auch heute ist es etwas Eigenes, Selbstgeschaffenes, auf das sich die nationale Einheit der emphatischen wie der skeptischen Kriegsfreunde bezieht: Auschwitz. Schieden sich genau hier in der Walser-Debatte die Geister in Antisemiten und Aufklärer, werden sie nun an diesem Punkt weitgehend wieder vereint. Da es jedoch etwas Negatives ist, das sie eint, kommt man - anders als im Weltkrieg - ohne fremde Hilfe nicht aus. Westliche Verbündete und Milosevic werden benötigt, damit der Mechanismus der Identifikation funktionieren kann.

Auf der Seite der Nato-Gegner findet allerdings die Identifikation mit umgekehrtem Vorzeichen statt: Hier wird die Nato mit dem "Dritten Reich", Clinton mit Hitler gleichgesetzt, und Peter Handke versucht, die Lage der Serben mit der der Juden in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Auch darin ist Auschwitz instrumentalisiert: Reflexion auf den Vernichtungskrieg des Dritten Reichs als Voraussetzung des heutigen Europa wird damit ebenso vermieden wie eine kritische Analyse des serbischen Nationalismus und der rassistischen Aggression von serbischem Staat und serbischen Banden. Der Antiamerikanismus des Kalten Kriegs und der Friedensbewegung der achtziger Jahre, der auf der Seite der Kriegsgegner einfach fortgesetzt wird, verdeckt jedoch zunehmend die spezifisch deutschen Interessen innerhalb des Westens und nähert sich im schlimmsten Fall der extremen Rechten an, die eben auch "kein Blut deutscher Soldaten" im Kosovo vergießen möchte.

Aber dieser Widerstand bleibt ohnehin schwach. Unter der Überschrift "Die Deutschen und der Krieg" stellt Jan Ross in der Zeit fest: "Eine merkwürdige Atmosphäre des Geschehenlassen liegt über dem Land. Das ist nicht erst seit dem Beginn der Bombardements so. Schon als Bundeswehrverbände mit schweren Waffen nach Mazedonien verlegt wurden, mochte man sich über das Desinteresse der Öffentlichkeit wundern (...). Die Neugestaltung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse dürfte lebhafter erörtert worden sein als der Krieg auf dem Balkan."

Die Projektion und Unschuldsumkehr funktioniert von allein, sie muß nicht erörtert oder begründet werden, sie ist für die Deutschen so selbstverständlich wie die Identifikation mit Spielbergs Schindler und Benignis Guido. Während im Golfkrieg durch die Gefahr für Israel tatsächlich ein Zusammenhang bestand mit denen, die in Auschwitz ermordet werden sollten, handelt es sich nun um reine Projektion: Rassistische Bandenkriege und Staatsaktionen, wie sie auch in Afrika, Tschetschenien, Indonesien, der Türkei etc. stattfinden, werden zum Menetekel eines neuen Auschwitz erklärt.

Systematisch all das mit Auschwitz zu identifizieren, durch dessen Bekämpfung sich Machtzuwachs erringen läßt - das ist zur Ideologie der deutschen und europäischen Außenpolitik geworden. Dazu kann dann auch die Dokumentation und Darstellung der vergangenen Schuld beitragen - mag sie die traditionelle Rechte noch so sehr vergrämen. Bei der Eröffnung der Wehrmachtsausstellung in Köln ergriff die Bürgermeisterin die Gelegenheit, um den heutigen Einsatz der deutschen Soldaten am Balkan mit dem in der Ausstellung Dokumentierten zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht vermag das Holocaust-Mahnmal Sinn zu machen. Nicht lange, und Fischer wird bei dessen Enthüllung die Worte sprechen: "Das haben wir im Kosovo gerade noch einmal verhindern können" - und mit Adornos Diktum schließen, "alles einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole".

Dieser Projektionsmechanismus, mit dem Deutschland in aller Unschuld als kriegsführende Macht in Aktion tritt, läßt die ganze Situation so gespenstisch erscheinen. Das Phänomen ähnelt dem des Philosemitismus: Im dunkeln bleibt, was sich hinter dem guten Willen verbirgt, wie groß die Gefahr eigentlich ist, von wem konkret sie ausgeht. Es ist ein schleichender, ungreifbarer Wille zur Macht, dumpf und unartikuliert, schwer zu sagen, was von ihm bewußt geplant, was spontan sich durchsetzt.

Dieses stumpfsinnige und zugleich undurchsichtige Herrschaftsinteresse bringt noch immer Bundespräsident Roman Herzog am besten zum Ausdruck. Auf die Frage des Spiegel: "Deutschland, wie es sich seit 1989 verändert hat, als Hoffnung für die Welt?" antwortet er: "Man traut uns mehr zu, oder man sieht, daß wir mehr Möglichkeiten haben. Aber diese Fragen wären auch ohne Wiedervereinigung an uns gestellt worden. Denn es war ja die westdeutsche Politik, die dieses Vertrauenskapital allmählich angesammelt hat."

Nationale Hegemonie scheint derzeit in Deutschland tatsächlich wie Kapital zu akkumulieren: Jeder trägt - gewollt oder ungewollt - etwas bei; die Konzentration geschieht gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure: Rudolf Augstein ist gegen den Einsatz am Balkan, möchte aber zugleich die USA als Weltpolizist stürzen; Theo Sommer möchte eine internationale Balkankonferenz einberufen "wie jene, die 1878 unter Bismarcks Vorsitz in Berlin stattfand"; Fischer möchte einfach weiter bomben. Gemeinsam aber ist allen Staatssubjekten der Wunsch: Auschwitz zu verhindern - er entspricht etwa dem Wunsch der Warensubjekte, Volkswohlstand zu schaffen. Die Deutschen (und Österreicher) fühlen sich eben immer mehr wie Oskar Schindler im Film: Inmitten einer Welt, auf die sie immer nur Auschwitz projizieren können, wollen sie ihren Profit machen und wie ein Gott über Leben und Tod entscheiden.