Lenin lernt tanzen

Luigi Nonos Oper "Al gran sole carico d'amore" in Hamburg: Travis Preston holt den Unterschied zwischen Politik und Musik auf die Bühne zurück

Der Anfang ist noch reiner Optimismus: "Die Schönheit setzt sich der Revolution nicht entgegen" - mit diesem Satz von Ernesto Che Guevara beginnt Luigi Nonos zweite Oper "Al gran sole carico d'amore". Sie wurde 1975 an der Mailänder Scala von Claudio Abbado und Juri Ljubimow uraufgeführt. 1978 dirigierte Michael Gielen in Frankfurt/ Main die überarbeitete zweite Fassung (Regie: Jürgen Flimm). Erst 1982 kam Nonos azione scenica in Lyon ein weiteres Mal auf die Bühne. Und jetzt plötzlich, wie in einem Anfall kollektiver bundesdeutscher Trauer über die Verabschiedung sozialer Utopien, geht's Schlag auf Schlag.

Im November letzten Jahres brachte die Stuttgarter Oper unter dem Dirigenten Lothar Zagrosek (Regie: Martin Kusej) "Al gran sole" heraus. Nun hat sich auch die Hamburgische Staatsoper der Arbeit angenommen und damit ihre Präsentation spektakulärer zeitgenössischer Werke fortgesetzt.

Der Titel entstammt einem Gedicht Arthur Rimbauds über die "unter der großen Sonne von Liebe beladenen" Hände der Louise Michel. Die Lehrerin war 1871 eine der Anführerinnen der Pariser Commune, ging 1883 ins Exil nach London und starb 1905 in Marseille. "Al gran sole" basiert auf einer Textmontage, die Nono mit Ljubimow zum Thema "gescheiterte proletarische Revolutionen" am Beispiel der Commune, der russischen Revolution von 1905, diverser Arbeitererhebungen und südamerikanischer Befreiungskämpfe zusammenstellte.

Die Libretto-Collage verknüpft unter Verzicht auf kausale Abläufe disparate Epochen und Strömungen, sie umfaßt Zitate von Brecht, Pavese, Gorki, Marx, Lenin, Castro, Tamara Bunke und anderen. Insbesondere aus der Sicht der Frauen will Nono Geschichte entindividualisiert und "von unten", dennoch jenseits der traditionellen Opferperspektive, darstellen. Eine Oper im herkömmlichen Sinne ist "Al gran sole" also gewiß nicht. Sie insistiert auf dem Fragment als elementarem Merkmal einer Kunst, die erst der Zuhörer vervollständigt.

Bei der Mailänder Uraufführung war das nur unter Polizeischutz möglich. Heute geht so etwas, zumindest in der Hamburger Inszenierung von Travis Preston (Ausstattung: Nina Flagstad), ganz gesittet vonstatten. Preston ist laut Pressetext "mit der Geschichte der Linken Europas bestens vertraut". Das darf gewiß auch mancher Volkshochschuldozent von sich behaupten. Für "Al gran sole" wäre jedoch statt eines Kenners ein Könner am Regiepult passender gewesen. Der hätte vielleicht mit Nonos zerrissener Dramenstruktur mehr anzufangen gewußt und nicht all das, was nur im Fragmentarischen zusammengehört, kreuzbrav wieder auf lineare Erzähllinie zu trimmen versucht.

Wo Nono lose verbundene Zitate in weiträumige Korrespondenz miteinander setzt, speichelt Preston den Textkorpus mit hinzuerfundenen, frei fabulierten Sentenzen - aufdringlich ans Proszenium geleuchtet - ein. Darin wird über den Anfang der Zeit, das Ende der Geschichte und ähnlichen Metaphernkram schwadroniert. Außerdem hat sich Preston, vermutlich um das berühmte Hamburger Ballett nicht zu verprellen, zusätzliche Rollen einfallen lassen. Doch woran es Nonos Monumentalwerk nun wirklich nicht mangelt, sind Worte und Figuren. Bei Preston scharwenzelt trotzdem ein "Engel der Geschichte" mit langen Flügeln und traurigem Gesicht durch die Szenerie.

Auch Lenin wird zum Tänzer und turnt wie Al Bundy mit Schiebermütze durch die Chormassen. Die folgen seinen irren Gesten und auch seiner Geigenpantomime, weshalb es kaum erstaunt, daß sie bald darauf tot umfallen. Daß sich Nonos Frauenbild hier mit den Stereotypen von der Hure und der Heiligen begnügt, stört Preston, im Gegensatz zu den sonstigen politischen Implikationen des Werkes, offenbar nicht. Schlägt der Komponist jedoch einen Bogen von der Kommunardin Louise Michel über Gorkis "Mutter", der Partisanin Tamara Bunke bis zur Prostituierten Deola beim Arbeiteraufstand 1950 in Turin, um die Kontinuität des Widerstands und seiner "Märtyrerinnen" zu zeigen, begnügt sich Preston mit erlesener Flachware.

Bei ihm erstarrt das Prinzip Weiblichkeit zur Duldsamkeit. Egal ob in Militärmänteln oder in Dessous, die vier Sopranistinnen, die fast durchgängig einen Vokalteppich als "serielles Belcanto" weben, verändern ihren Habitus nicht. Sie stehen meist unterbeschäftigt herum und warten auf ihren Einsatz. Wenn Sarah Leonard, Elena Vink, Priti Coles und Sabine Ritterbusch dann allerdings singen, ist das aufregend und eindrucksvoll. Die "Mutter" (Elizabeth Laurence) kommt wie eine stark erkältete Babuschka an die Rampe gewandelt, dick in Sack und Asche gehüllt und ist auch sonst ein einziges leidvolles Gebinde russischer Folklore. Ihr Sohn Pawel (Wolfgang Rauch) taucht vor einer Turiner Fabrik, warum auch immer, im Affenkostüm auf und wird von der Mama gehätschelt, ehe der arme Mann sich seines Spielanzuges entledigen darf.

Evolution statt Revolution verordnet Preston dem Sujet und bemüht schon im Prolog ausgiebig Darwin und eine Horde Menschenaffen, auf daß man ihm glauben möge. Der Schlaf der Vernunft gebiert unzählige weitere Ungeheuer. Schließlich wird eine riesige Marx-Büste angekarrt und öffnet sich, so daß ein rotes Miniaturtheater mit drei Stehplatz-Rängen entsteht.

In diesem "Triptychon der Revolution" drängelt sich der Chor und schaut auf den Dirigenten. Die Sänger tragen Schilder, auf denen "Voltaire", "Trotzki", "Plato", "Fidel" usw. geschrieben steht. Daß man die Namen im plüschigen Dämmerlicht kaum entziffern kann, erhöht den Heiterkeitswert dieser Szene, hat aber nichts mit jener "macchina repressiva" zu tun, die Nono immer wieder musikalisch heraufbeschwört und die Preston, der sonst alles bebildert, auch als Topos standhaft ignoriert.

Der Regisseur als manischer Sinnstifter versucht, jede Leerstelle in "Al gran sole" zuzudecken, als müßte der Gestus von Autonomie und Freiheit zugunsten eindeutiger, markiger Antworten ausgelöscht werden. Am Schluß greift Preston noch auf die Bibel zurück, läßt religiöse Vokabeln wie "Via dolorosa" oder "Lux aeterna" einblenden und das Volk mit Mao-Bibeln als Gesangsbücher zur verblödeten Kirchengemeinde werden. Pawel und die Frau Mama schleppen wie Christus sein Kreuz einen riesigen Hammer-mit-Sichel über die Bühne, was zwar keinen Zweck hat, aber rührend wirkt. Dann wird der Sohn unter dem Symbol hingerichtet, worauf die daran gefesselte Mutter zum Bühnenhimmel auffährt.

Die allzu große Sonne hat unübersehbar für einen Sonnenstich gesorgt. So findet die Oper ausschließlich im Orchestergraben statt. Doch gegen die Ansammlung von Platitüden auf der Bühne hat Nonos Musik eigentlich kaum eine Chance. Diese aber nutzt Ingo Metzmacher und dirigiert mit eindringlichem Engagement und unerhörter Transparenz bis in die feinsten Verästelungen und zurück zur mächtigen Attacke. Mit dem großartigen Ensemble, dem hervorragend einstudierten Chor realisiert er wenigstens akustisch die geniale Dimension dieses Ausnahmewerkes.

Angesichts des szenischen Rollbacks wird der Trauergestus, der "Al gran sole" bald durchzieht, in geradezu gespenstischer Weise aktuell. Bereits 1964 schrieb der Komponist - auf deutsch - an den politisch und ästhetisch ebenfalls angegriffenen Paul Dessau in die DDR: "immer vorwaerts! die dummen: kein Gewicht." Ende der sechziger Jahre erklärte Luigi Nono: "Es gibt für mich keinen Unterschied mehr zwischen Musik und Politik." Das, scheint es, hat man ihm bis heute nicht verziehen.

"Al gran sole carico d'amore".

Musik: Luigi Nono. Dirigent: Ingo Metzmacher. Regie: Travis Preston. Mit Sarah Leonard, Elena Vink, Priti Coles, Sabine Ritterbusch, Elizabeth Laurence, Frieder Stricker, Wolfgang Rauch.

Hamburgische Staatsoper. Aufführungen am 23., 27., 30. April, 13., 16., 19. Mai