Zielgruppe Bevölkerung

Gefährliche Orte LVII: Durch gegenseitige Sozialkontrolle der Bürger hofft die Polizei in diesem Jahr auf einen ruhigen 1. Mai in den unruhigen Bezirken

Brennende Barrikaden, Randale, Hexentanz, plündernde Chaoten und verletzte Polizisten - das waren in den vergangenen Jahren die Schlagzeilen der Berliner Lokalpresse zu den Auseinandersetzungen um den 1. Mai im Prenzlauer Berg. Damit sich das in diesem Jahr nicht wiederholt, arbeitet seit Februar eine "AG 1. Mai 1999" bei der Berliner Polizei.

Dort bemühen sich fünf Mitarbeiter um "Bürgernähe und Authentizität", wenn es darum geht, im Vorfeld des 1. Mai "Öffentlichkeitsarbeit in der Bevölkerung" zu leisten, wie Hauptkommissar Carsten Bevier vom Polizeiabschnitt 7, Prenzlauer Berg, seine Aufgabe beschreibt.

Diese Arbeitsgruppe, die sich den Beinamen "Aha!-Team" zugelegt hat, möchte Aufmerksamkeit schaffen, um Hilfe bitten und Appelle starten. Dazu wurden in den potentiellen Krawallbezirken Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg Veranstaltungen vorbereitet, um mit der "Zielgruppe Bevölkerung" ins Gespräch zu kommen.

Der erste Versuch fand in der vergangenen Woche im Bezirksamt Prenzlauer Berg statt, wohin das Aha!-Team zum "Prenzlberger Mai-Talk" geladen hatte. Auf Stelltafeln hat man hier die Schlagzeilen zum 1. Mai dokumentiert - sorgfältig fotokopiert und vergrößert. Eine passende Einstimmung der Besucher auf das Thema der Veranstaltung: "Walpurgisnacht und 1. Mai im Kiez".

Anfang der neunziger Jahre verlagertet sich der Schwerpunkt der 1. Mai-Aktivitäten von Kreuzberg ("13 Uhr, O-Platz") auf die Ostberliner Bezirke Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg. So versammelten sich am Abend des 1. Mai 1992 etwa 1 500 Menschen auf dem Kollwitzplatz. Der Polizeifunk meldete "im Bereich der Direktion 7 jede Menge Aktionen". "Zum Teil werden dort Barrikaden errichtet und Plünderungen vorgenommen", heißt es im Funkprotokoll. Die Polizei war irritiert. Auswärtigen Polizisten fehlte die Orientierung, weil viele Straßenschilder überpinselt worden waren. Ratlos standen die Einsatzleiter vor ihren Lageplänen.

"Ratlosigkeit an diesem Termin" befällt auch den Bezirksbürgermeister Reinhard Kraetzer (SPD), der auf dem Podium sitzt und über den Tag nachdenkt, an dem "die Gewalt über den Bezirk kommt". Doch von der erhofften Bürgernähe ist an diesem Nachmittag im Bezirksamt nur wenig zu spüren. Der Großteil des Publikums besteht aus jungen Polizeischülern ohne Uniform, die Beifall klatschen, wenn der Leiter der Direktion 7, Michael Knape, versichert, daß "die Polizisten am 1. Mai bei schönem Wetter viel lieber mit ihren Familien spazieren gehen würden", als sich "mit erlebnisorientierten Kids und Zugereisten" zu prügeln, die "den Bullen an diesem Tag aufs Maul hauen wollen". Daß sie das wollen, entnimmt Knape den Aussagen von Festgenommenen.

Georg Gafron, Programmdirektor des Berliner Privatradios 100,6 und ebenfalls auf dem Podium, kann dem nur beipflichten. Schließlich helfe dieser Tag all jenen, "die Berlin runterreden wollen". In der autonomen Szene habe man es mit einem "harten Kern von rund 1 200 Linksextremisten" zu tun, die gewaltbereit seien, beeindruckt Gafron seine Zuhörer mit Daten. Für Direktionsleiter Knape ist deshalb klar, daß jetzt "intelligente Einsatzkonzepte" gefragt seien. Die Sprache sei das Einsatzmittel der Polizei. Das "Abriegeln" ganzer Bezirke hält Knape für "eine der stupidesten Maßnahmen". In Kreuzberg sei dieses Konzept bereits gescheitert.

Die Anwohner des Kollwitzplatzes lernten solche Maßnahmen in den vergangenen Jahren bereits kennen. Sie mußten Personen- und Ausweiskontrollen über sich ergehen lassen, um in ihre Häuser zu gelangen. "Schlimmer als bei der Stasi", beschwerten sich Nachbarn über die Kontrollen. Die Polizei forderte in Flugblättern und Briefsendungen die Bevölkerung auf, ihre Umgebung aufmerksam zu beobachten, um "Straftaten" zu vermeiden.

1995 beendete die Polizei das Walpurgisnachtfest auf dem Kollwitzplatz gewaltsam. Ein Polizeibeamter hatte einen Verstoß gegen die Verordnung zum Schutz von Grün- und Erholungsflächen festgestellt. In einem mehrstündigen Einsatz mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken wurden die Feiernden von der Polizei vom Platz vertrieben. Viele Festbesucher setzten sich zur Wehr.

1996 scheiterte der Versuch einer Sicherheitspartnerschaft zwischen den Organisatoren des Walpurgisnachtfestes und der Polizei an einem unangekündigten Polizeieinsatz auf dem Festplatz. Hinzu kamen in der Vergangenheit Vorwürfe an die Polizei, vermummte Zivilkräfte und Provokateure zum Einsatz gebracht zu haben. So heißt es 1997 in einem Funkprotokoll der Polizei zum Mai-Fest auf dem Humannplatz: "Es wäre schön, wenn Sie mir mit 'ner Eskalation noch ein bißchen Zeit ließen ..." Auch 1998 eskalierte die Situation im Prenzlauer Berg, als es in der Kastanienallee zur Randale kam. Über 400 Menschen wurden verhaftet.

Verständlich, daß sich die Berliner Polizei für dieses Jahr eine neue Präventionsstrategie ausgedacht hat und vor allem auf das Verständnis und die Unterstützung der Anwohner in den möglichen Kampfgebieten setzt. In Friedrichshain organisiert das Aha!-Team am 24. April ein Streetballturnier, am 27. April wird ein Diskussions- und Ausstellungszelt auf dem Boxhagener Platz stehen. Am Straßenfest in der Warschauer Straße (Jungle World, Nr. 16/99) beteiligte sich das Aha!-Team am vergangenen Wochenende mit einem Infostand. Und durch Kreuzberg wird in den kommenden Tagen ein "Anti-Gewalt-Mobil" fahren: Auf dem umgebauten Polizeifahrzeug werden sowohl beschlagnahmte Demo-Utensilien als auch Waffen der Polizei zu besichtigen sein.

Trotz all dieser Bemühungen ist sich die AG 1. Mai 1999 darüber im klaren, daß sie die "eigentliche Zielgruppe" nur schwer erreichen werde, sagt Polizeihauptkommissar Bevier: "Da enden die Möglichkeiten unserer Öffentlichkeitsarbeit." Zwar würden viele Bürger die Möglichkeit des Infotelefons nutzen, um zu fragen, wo sie ihre Auto parken können oder ob ein Umzug an diesem Tag möglich sei, doch dem "harten Kern kann nur durch Sozialkontrolle der Bürger untereinander der Schutz in der Masse entzogen werden", erklärt Bevier die Polizeistrategie zum 1. Mai. Bisher sei zwar keine Demonstration durch den Prenzlauer Berg geplant, doch Bevier geht davon aus, "daß eine Demo noch bis 48 Stunden vor Beginn angemeldet werden kann".

Eine originelle Idee hat sich das Aha!-Team für den 24. April einfallen lassen. Da lädt das Polizeirevier in der Schönhauser Allee 22 zum "Tag der offenen Tür". Und wenn sich die "eigentliche Zielgruppe" hier nicht freiwillig melden sollte, ergibt sich vielleicht eine Woche später doch noch die Gelegenheit dazu. Unfreiwillig.

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