Haute Couture

Die Unmöglichkeit der Biographie: Jean-François Lyotard über André Malraux

Für das postmoderne Denken, in dem doch angeblich alles möglich ist, ist einiges prinzipiell nicht möglich: das eine Subjekt, die eine Geschichte, die eine Wirklichkeit. Kurz: die Totalität, in welcher Darreichungsform auch immer. (Das ist ja, was den Konservativen gegen die Postmoderne aufbringt.) Und mit diesen Ausschlüssen fallen auch gewisse literarische Genres: die lineare Erzählung im allgemeinen, die Biographie im besonderen.

Es war also an der Zeit, daß der Postmoderne an sich, Jean-Fran ç ois Lyotard, eine Biographie verfaßt. Und kein Gegenstand wäre dieser Biographie angemessener als eine der letzten Personen, die in diesem Jahrhundert "Geschichte mit einem großen G" nicht nur geschrieben, sondern auch gelebt haben: André Malraux - der koloniale Abenteurer, der Vorzeige-Kommunist, der Spanien- und Résistance-Kämpfer, der Minister de Gaulles.

War die Zeit für diese Biographie gekommen, weil die Wirklichkeit wieder zu Blöcken und Gestalten gerinnt, also der Anschauung des Konservativen sich annähert? Oder vielleicht, weil Lyotards Lebenszeit abgelaufen war und er widerrufen wollte? Ich vermute, Lyotard mußte diese unmögliche Biographie schreiben, weil postmodern - oder sagen wir: wie Lyotard - denken immer auch heißt, in die Unmöglichkeit verliebt zu sein.

Diese Liebe ist der vornehmste Zug seines Buches. Malraux - der Mann, der keine Heldentat begehen konnte, ohne sich vorher darüber vergewissert zu haben, daß eine Kamera oder ein Zeuge oder wenigstens ein Notizbuch in der Nähe war. Malraux - die pathetische Persönlichkeit in einem Jahrhundert, das (zumindest in seiner zweiten Hälfte) kein Pathos duldete. Malraux - der Schwadroneur, Aufschneider, "geborene Fälscher", der "festangestellte Prediger", der Rhetor mit "sehr erhobener Stimme". Dieser Malraux könnte als Exempel für die Lächerlichkeit und Aufgebauschtheit derer dienen, die der Geschichte leben. Doch Lyotard, dem alle Schwächen des Mannes wohlvertraut sind, wendet sie nicht ein einziges Mal gegen ihn.

Im Gegenteil: Er erkennt hinter der großen Geste, in der schlechten Schauspielerei den bewundernswerten Versuch, dem Leben und damit dem Tode zu entkommen. Und er weiß, daß Malraux wußte. "Bis hin zu den großen Figuren, die er bewunderte oder verehrte, mußte er die Verstellung erkennen. Sie verlieh ihnen in seinen Augen noch mehr Größe." Malraux' Verstellung war seine Weise, Stellung zu beziehen, sie war Widerspruch gegen das ihm zugedachte kleinbürgerliche Leben, gegen das Verdämmern in der Vorstadt, in der er bei seiner Mutter aufwuchs, "Krieg gegen die Erniedrigung, so geboren zu sein", ja, überhaupt geboren zu sein; die Verstellung war Teil seines Kampfes für "das Recht, ein Fremder zu sein" (Malraux).

"Mutters Brust duftete nach gepflegter Toilettenseife." Lyotard schlägt gleich auf der ersten Seite diesen ordinären Akkord an, aber der leitet bloß das gefühlvolle Ostinato der linken Hand ein, das sogleich mit der Rechten von höchst dissonanten Klängen überlagert wird. Die nach Seife duftende Mutter trägt den einjährigen André an den Rand eines offenen Grabes. In die Grube, in der sich "Regenwürmer, aschgraue Maden, Spinnentiere, eine blinde Fauna, die er nicht sah und die ihn sah, eine Bevölkerung aus Händen" tummeln, wird der Sarg mit dem Leichnam des kleinen Bruders hinabgelassen und auf andere Särge gestapelt. Raymond-Fernand Malraux war knapp drei Monate alt geworden. 18. März 1902: In dieser düsteren Beerdigung, zu der die Mutter - der Vater, ein Hochstapler und Frauenheld, war wie üblich nicht anwesend - ihr Söhnchen führt, erkennt Lyotard die "Urszene" (wenn auch nicht im Freudschen Sinn).

Vor diesem Schrecken sei Malraux davongelaufen. Von da an habe er das Sterben mit der Mutter, ja mit den Frauen überhaupt assoziiert, die gebären müssen, um den Tod zu vermehren. "Und überall Insekten" (Malraux): Von dem Anblick des Ungeziefers im Grab seines Bruders habe er sich eine lebenslängliche Phobie vor Spinnen und Maden geholt, die (wiederum ganz freudianisch) für das Weibliche, die mütterlichen Introjekte, stünden.

Das ist jedenfalls einer der "denkbaren Malraux", einer der möglichen oder unmöglichen; Lyotard ist kein Besserwisser. Er versucht, den unverkennbaren Hang dieses Schriftstellers und Politikers zu erklären, sich in die Geschichte einzuschreiben, Geschehenes zu "signieren", den Vaternamen in ein unvergängliches Denkmal zu meißeln. Und das bedeutete für Malraux gleichzeitig, die Mutter, ja das Weibliche überhaupt, dem Vergessen zu überantworten. Ein Beispiel unter vielen: Clara Malraux, seine kluge erste Frau, sammelte in Paris im Bekanntenkreis Geld und Unterschriften für ihn, der mittellos in einem indochinesischen Gefängnis saß. So suchte sie auch bei seinen Eltern um Hilfe nach. Doch als der Tyrann der Familie zurückkehrte, herrschte er seine Ehefrau an: "Was haben Sie denn mit meiner Mutter zu schaffen?"

Man wird in dieser Flucht vor dem Weiblichen auch die Angst davor, penetriert zu werden, erblicken, den Homosexuellenhaß, der eines Dichters nicht würdig, aber unter denen, die Geschichte machen, üblich ist. Aus den bekannten Gründen: "(Malraux) hat nur eine Frau bis zum Wahnsinn geliebt, und das war de Gaulle." Doch der General war bereits mit der Nation verheiratet.

Was aber die Literatur von Malraux betrifft, so läßt Lyotard keinen Zweifel daran, sie sei minderen Ranges. Schreiben, um mitzuteilen oder um zu überleben, ist ohnehin ein Fehler, wenn nicht blanke Dummheit; eine weitere Unmöglichkeit. Lyotard plädiert wie immer zu Gunsten seines Analysanden: "Als ob seine Feder das schon gewußt hätte (daß es nämlich nichts zu sagen gibt, es sei denn, man sagt das Nichts), stieß sie an Wörtern und Sätzen herum, damit es bloß gesagt sei."

Ein einziges Werk nimmt der Biograph aus, weil es dem Nichts gegenübertritt: Malraux' Biographie. Die späten "Antimémoires" sind - in Anlehnung an diejenigen des Chateaubriand, in denen er mit Vorliebe las - des Schriftstellers "Mémoires d'outre-tombe", seine Erinnerungen von jenseits des Grabes: "Ein Buch der dekonstruierten, rekonstruierten, erfundenen, zu einem Drehbuch verarbeiteten Augenblicke, ein überfließendes Buch." Die "Antimémoires" bilden das Gegenstück zu jener zweiten großen Biographie, die Malraux schrieb: sein Leben.

Daß es dieses "Leben-als-Werk" gab, ist überhaupt die Voraussetzung für Lyotards Biographie-der-Biographie. "Biographie", das ist komponiert aus "bios" und "graphè". "Bios" kann nichts anderes sein als die Existenz des Körpers, dieses "den Würmern der Erde vorbehaltenen Weideplatzes", "bios" ist das sterbliche Leben, der schleichende Tod. "Graphè" hingegen bedeutet die Spur, die einer hinterläßt, Spur des Namens in der Geschichte. Mußte also der "bios" der "graphè" geopfert werden? Das wäre die Lösung eines kontemplativen, mit seinem eigenen Verschwinden rechnenden Bewußtseins gewesen; ein Spiel, ein Würfelwurf von Stéphane Mallarmé oder Max Jacob. Also konnte es nicht die Lösung von Malraux sein. Er glaubte, damit die "graphè" ihre Spur ziehen kann, müsse sie sich vom "bios und dessen finsterem Wiedergekäue signieren", sich von ihm "schröpfen lassen". Nur indem sich die Schrift dem gefräßigen und tödlichen Leben aussetze, könne sie bestehen, könne sie es überwinden.

Ein bizarrer Irrtum, aber ein interessanter und sicher für dieses Jahrhundert typischer. Das Leben beglaubigt nicht die Schrift, und die Schrift ist nicht lebendig. Mit Blut lockt man keine Seelen an, auch nicht in der Vorhölle.

Lyotard verfolgt Malraux' Spur des Irrtums, seine Versuche, mit dem väterlichen Namen zu zeichnen. Der Biograph tut dies nur ungefähr chronologisch und nicht linear. Er bündelt die Motive, die Komplexe, er collagiert - wie der Kunstsammler Malraux, der sein "imaginäres Museum" zusammenstellt. Es ist, mit einem Kalauer Lyotards, "Haute Couture", hohe Schneidekunst.

Dieses "imaginäre Museum" von Malraux ist eine merkwürdige Sache. Kunsthistorisch oder -theoretisch sind seine diesbezüglichen Schriften von nicht allzu großer Bedeutung, und doch fesseln sie Lyotards Aufmerksamkeit. Hier und nirgends sonst verzichtet Malraux darauf, Sinn zu stiften, Geschichte zu machen. Er verzeichnet einfach den überwältigenden Eindruck von Kunstwerken, ohne "die Angst vor der Präsenz, der Frage, der Entstehung, der Erscheinung dadurch zu mildern, daß man ihren Zufällen mit einem Werden oder gar einer Genealogie Profil verleiht". Hier findet Lyotard also, ohne daß das Wort fällt, seine Ästhetik des Erhabenen wieder.

So wie Lyotard im letzten Kapitel die Malrauxsche Konzeption der Präsenz vorstellt, ist sie schlicht, ohne religiöse Glasur. Die "Evidenz der Nicht-Antwort" bleibt unabweisbar. Vom Ende des Textes her erscheint dieser selbst wie ein "imaginäres Museum" von Präsentischem, von Epiphanien: die Grube mit dem Sarg, die Feier des Fleisches in Florenz, die Abhänge der Vogesen, auf denen man "keine Wurzeln schlägt".

So hat uns der Biograph Bilder herausgeputzt, die er nicht gesehen haben kann und die wir nicht glauben sollten. Aber bei all dem Unmöglichen, das Malraux versucht hat, sollen diese Bilder oder "erfundenen Augenblicke" doch stellvertretend für das einzig wirklich Vorhandene stehen. Wie sich Malraux am Ende der Nacht widmete, "aus der das Sichtbare hervorging", evoziert sein Biograph das Sichtbare, bevor es wieder in die Nacht eintaucht.

"Nichts war den Blicken Malraux' entgangen (Ö)" - sein Leben auf der Flucht war vielleicht auch ein Jagen nach möglichen Bildern und die nie nachlassende Todesangst vielleicht auch die Furcht davor, nicht mehr sehen, d.h. nicht mehr sich selbst beim Sehen zusehen zu können. "(Ö) and then / I could not see to see -", umschrieb Emily Dickinson das Sterben; auch ein Text d'outre-tombe, allerdings von einer, die der Geschichte aus dem Weg ging.

Jean-François Lyotard: Gezeichnet: Malraux. Biographie. Aus dem Französischen von Reinold Werner. Paul Zsolnay, Wien 1999, 400 S., DM 58