PC in Weimar

Der Goethe-Forscher Daniel Wilson beklagt die Menschenrechtsverletzungen im Großherzogtum Sachsen-Weimar

Seinerzeit, bei der Feier des 100. Todestags, übten sich deutschnationale Germanistik und Feuilleton ins "Dritte Reich", proletarisch-revolutionäre Schriftsteller in die "Volksfront" ein. Nun, anläßlich des 250. Geburtstags, blickt man zurück auf die totalitäre Vergangenheit - und entdeckt ihre Wurzeln bereits bei Goethe selber.

Entweder anything goes oder political correctness, so lautet jetzt die Alternative: Alles geht mit Goethe, wenn es etwa den Fremdenverkehr in Weimar fördert. Die Gedenkstätten werden nicht nur liebevoll restauriert, sondern sogar verdoppelt (wie im Falle von Goethes Gartenhaus, das geklont wurde). Passenderweise meldete sich aus der Umgebung auch ein Goethe-Doppelgänger, der von einem Seitensprung des Geheimrats herzustammen vorgibt.

Wie wenig korrekt Goethe jedoch in Sachen Menschenrechte war, das läßt man sich am besten von einem Amerikaner erklären. Er sagt am glaubwürdigsten, was man immer schon wußte: Die Deutschen sind von ihren Herrn immer nur betrogen und verraten worden - vom Kommunismus wie von den nationalsozialistischen Führern und den preußischen Kaisern, und jetzt stellt sich sogar heraus: auch von Goethe und Carl August in ihrem schönen Großherzogtum, nach dem die erste Republik benannt wurde.

Der amerikanische Germanist W. Daniel Wilson hat Goethe und die Weimarer Klassik enttabuisiert - und Erkenntnisse, die eigentlich niemanden überraschen können - "Sachsen-Weimar war in vieler Hinsicht eben ein ziemlich normaler deutscher Kleinstaat des 18. Jahrhunderts" -, gewinnen die Dimension eines Skandals, über den sogar im Fernsehen berichtet wird. Überall in Deutschland ist man wieder einmal fassungslos über sagenhafte Enthüllungen - nun aber betreffen sie das Politbüro des Großherzogtums, das Geheime Consilium, und den Schriftstellerverband des 18. Jahrhunderts, die Klassik.

Die Journalisten, professionelle Anhänger kommunikativer Vernunft, sind verständlicherweise darüber erbost, "wie tief das instrumentelle Denken in die Amtsgeschäfte des Geheimen Consiliums eingegriffen hatte: Menschen waren verkäufliches Material, so daß es nicht überrascht, daß sich die Sprache der Zweckrationalität einschleicht". Die Empörung, die das Buch vermittelt, soll vor allem die Erkenntnis verhindern, daß der Staat eben per definitionem Zweckrationalität ist und seine Untertanen, bei Strafe seines Untergangs, immer nur als Material betrachten kann. Und diese staatstreue Empörung hat in Goethes Staatstätigkeit das besonders Verabscheuungswürdige gefunden, mit dem das Verabscheuungswürdige des Ganzen vertuscht werden kann.

Das Buch bewegt sich also auf dem Niveau eines Spiegel-Berichts: "Goethes Einfluß auf politische Entwicklungen in Sachsen-Weimar war in mehreren Fällen gegen Menschenrechte gerichtet (...). Daß er am Soldatenhandel mitwirkte, Fichte und Herder einschüchterte, das Spitzelwesen unter Studenten mit verantwortete, die Universitätsautonomie beschnitt und protestierende Bauern bestrafen ließ - das alles vergrößert die in der Forschung schon konstatierte Kluft zwischen seinen humanen Idealen und seiner amtlichen Praxis."

Wer den Benjaminschen Satz "Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein" auf die Formel von der Kluft zwischen humanem Ideal und amtlicher Praxis herunterbringt, ist selbst bereits ein Opfer amtlicher Praxis geworden. Geliefert hat der von Goethe so sehr enttäuschte Germanist mit dem festen Glauben an das Gute, Schöne und Wahre ein Sündenregister von Tätigkeiten, die nun einmal anfallen, wenn einer sich am Staat aktiv beteiligt, und das nicht nur als kleiner Universitätsprofessor. In guter alter Studienrats-Manier ist die trockene Aufzählung mit jeweils passenden Reimen aus Goethes unermeßlichem Zitatenvorrat illustriert.

Zu Wilsons Empörung darüber, daß Goethe für die Hinrichtung einer Kindsmörderin votierte - gewiß das Übelste und Widerwärtigste, das von der amtlichen Praxis des Geheimrats berichtet werden kann - bemerkte Peter Hacks in konkret: "Gegen das altertümliche Rechtsmittel der Todesstrafe würde ich persönlich mich nicht gern von Kalifornien aus ereifern" - und schließt daran seinerseits die Empfehlung, den US-Germanisten zu Ehren Goethes feierlich in der Ilm zu ertränken.

Hilfreicher ist da schon Hacks Hinweis auf den Rückzug Goethes von der Politik und die zentrale Stelle, die das Entsagungsmotiv in seiner literarischen Produktion gewann. Denn sind Goethes Werke wie alle Dokumente der Kultur auch solche der Barbarei, so unterscheiden sie sich von den meisten andern doch immerhin darin, daß sie diese Barbarei - als Voraussetzung der Humanität, des Guten, Wahren und Schönen - bewußt machen können. Die Darstellung der Kindsmörderin im "Faust", der doppelzüngigen griechischen Kulturträger in der "Iphigenie", der Staatsdienerei im "Clavigo" und im "Tasso" sind abgedungene Untaten.

Diese Reflexivität im Ästhetischen hat Adorno in seinem "Iphigenie"-Vortrag sichtbar gemacht (gegen den seinerzeit die Berliner Studenten rebellierten, weil sie von Mao statt von Thoas etwas hören wollten). Nicht nur hält Adorno fest, daß der Weimarer Goethe "an den internationalen Stand des Bewußtseins Anschluß gesucht hatte" und als "Agens der Entprovinzialisierung des deutschen Geistes" wirkte, er macht ebenso deutlich, daß die Zivilisation, auf die der Weimarer Goethe sich stützte, von ihrem Gegenteil sich nicht trennen läßt. Und gerade diese negative Dialektik kann an dem als Ausbund harmonischer Klassik totgefeierten Werk studiert werden. In ihm wird, so Adorno, Zivilisation thematisch: "Die pragmatische Voraussetzung der 'Iphigenie' ist Barbarei."

Von solcher Reflexivität sind Schillers Tiraden vom "tintenklecksenden Zeitalter" und noch mehr Fichtes deutsche Revolutionsromantik weit entfernt. Über beide Autoren hat übrigens IM Goethe für die Stasi Carl Augusts Akten angelegt, wie das neue Enthüllungs-Buch nachweisen kann. Wilson aber - ein veritabler Staatsanwalt der Literaturgeschichte - will durchaus nichts von der dunklen, barbarischen Grundlage der Menschenrechte, von der "Iphigenie" handelt, wissen, sondern mißt an ihnen immer nur die amtlichen Dokumente von Goethes Tätigkeit. Die Forschung findet so, bereinigt von jeder philosophischen Reflexion, ihren eigentlichen Zweck in der Formalisierung, und der Germanist - Inbegriff des kritischen Beamten - zu sich selbst. In Deutschland kann dies jedoch fatale Folgen haben.

Insbesondere ereifert sich Wilson über den Umgang mit dem Professor Johann Gottlieb Fichte, den er als aufrechten Vertreter der Menschenrechte ansieht. Fichte sei wegen seiner "revolutionsfreundlichen Schrift" "Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" in Weimar verfolgt worden.

Hat der Germanist nicht einmal einen Blick in diese Schrift geworfen - und sich gefragt, wie es darin mit den Rechten für Juden etwa steht, wie also Revolutionsfreundlichkeit auf gut deutsch aussieht? Den Juden "Bürgerrechte zu geben", sagt Fichte hier, "dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei".

Fichte geht von der geläufigen Identifikation des Judentums mit der abstrakten Macht des Geldes aus - das Judentum habe sich selbst (!) "zu dem den Körper erschlaffenden, und den Geist für jedes edle Gefühl tötenden Kleinhandel verdammt". Er verbindet diese althergebrachte Identifikation jedoch mit der emphatischen Bejahung der allerneuesten revolutionären Forderungen; das heißt, er bejaht politische Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit - unter der Voraussetzung, daß die Juden davon ausgeschlossen sind.

Damit liefert der deutsche Jakobiner den ersten Entwurf einer Verschwörungstheorie: Fichte glaubt, daß das Judentum "so fürchterlich werde", nicht allein deshalb, weil es einen "abgesonderten, und so fest verketteten Staat bildet", sondern vor allem, weil "dieser Staat auf dem Haß des ganzen menschlichen Geschlechts aufgebaut ist".

Der Germanist mit der revolutionären Gesinnung empört sich indessen darüber, daß Großherzog Carl August von einer "ephemeren Geisteskranckheit" Fichtes sprach, wo es nach seiner Auffassung um eine "prorevolutionäre Haltung" gehe, und sieht hier bereits das Verschwinden der kritischen Intellektuellen in den psychiatrischen Anstalten der Sowjetunion vorbereitet. Dabei irrte der Großherzog nur darin, daß er die Geisteskrankheit nicht als gesellschaftliche ansah und darum als ephemer betrachtete, wo sie doch alle Anzeichen einer politischen Epidemie trug, die bald darauf das Land überschwemmen sollte.

Vor dem Hintergrund solcher Professoren und Studenten - in Jena formierte sich die "Urburschenschaft" - können die Maßnahmen des feudalabsolutistischen Staats - ähnlich jener der DDR gegen rechtsradikale Tendenzen - schon wieder Sympathien wecken. Allerdings handelt es sich, da es eben staatliche Maßnahmen sind, um äußerst fragwürdige Gegenkräfte, die selber nicht auf jene Kräfte verzichten können, die sie eindämmen möchten. So finden sich etwa auch bei Goethe, bei allem Ressentiment gegenüber den Befreiungskriegen, mitunter Anleihen an Nationalismus und Antisemitismus, er war eben ein Staatsdichter - aber Sätze wie die Fichtes aus dem "Beitrag" hat er nicht geschrieben, eine Figur wie Schillers Spiegelberg aus den "Räubern" - Vorwegnahme aller dämonischen Judenfiguren in der deutschen Literatur - nicht erfunden.

Wilson aber weiß nichts von dieser Gefahr. Mit keinem Wort erwähnt er den nationalistischen Charakter der revolutionären Bewegung in Deutschland. Überall sieht er nur den Konflikt zwischen den Demokraten und ihren Feinden. Das Buch stellt also den verspäteten Beitrag der Goethe-Forschung zur deutschen Wiedervereinigung dar. Der Schlußsatz läßt darüber keinen Zweifel, wenn er das Ergebnis der Studie so zusammenfaßt: "daß das Volk in Deutschland (...) auf eine lange und starke Tradition politischer Aufmüpfigkeit zurückblicken kann". Diese Tradition beginnt spätestens mit den Hep-Hep-Unruhen, die in Weimar immerhin nicht stattfanden, und reicht bis zu den heutigen Pogromen gegen Ausländer, die immerhin in der DDR nicht stattfanden. Ihren geschichtlichen Zielpunkt hat diese Aufmüpfigkeit in Auschwitz.

W. Daniel Wilson: Das Goethe-Tabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 414 S., DM 24,90