Rentner der Rennbahn

Mit Programm-Peter, Fett-Tolle und Kumpels von Zeche Zollverein beim Pferdewetten in Gelsenkirchen

Der Dresscode scheint alten Herren beim Pferdewetten Hut, zu enges Polohemd und Schlabberbundfaltenhosen vorzuschreiben. Eine Stunde vorm ersten Start. Die ergrauten Hasardeure rücken in der späten Nachmittagssonne an. In beigem Parka, oder mit lässig über den Arm geworfener Strickjacke passieren sie den Parkplatz der Gelsenkirchener Trabrennbahn, ständig in Gefahr, von dem Mofaschüler erwischt zu werden, der hier noch seine Runden zieht. Alle umklammern irgendwelche Papiere, Zeitungen, Täschchen. Da müssen sie drin sein, die geldschweren Tips der Altzocker. Nur, wo krieg ich meine her - ohne Polohemd, Papier und Jahrzehnte auf der Rennbahn?

Hinter dem rotzgelb gekachelten Eingang knubbeln sich die Leute um den Wagen mit den Rennprogrammen. Schließlich wollen sie ihre Kohle mit einem wissenden Gefühl setzen. Gut 200 Millionen Mark verwetten bundesdeutsche Pferdefreunde im Jahr. Heat, "die Fachzeitung für Trabrennsport und -Zucht", versorgt sie im handlichen, täschchenkompatiblen A 4-Format mit Voraussagen und allerlei nützlichen Zahlen über die startenden Gäule. Zum Beispiel erfährt man da, wer heute geimpft wird. Was mich aber den Favoriten nicht sonderlich näherbringt.

Wissend wirkt der Verkäufer. Ein netter, leicht angejahrter Kumpel. "Hasse was, Peter?" fragt ihn ein Großvater mit Sonnenbrille. Dann drückt er dem Programm-Peter, so heißt der Mann dort knapp, noch einen Schokoriegel nebst kleinem Feigling in die Hand. Dieselben Fragen von denselben Leuten seit 26 Jahren.

Damals hat sich Peter in den Job eingeheiratet: "Meiner Frau ihr Vater und der Opa haben das schon gemacht." Über 60 Jahre lang. Vor 86 Jahren lief das erste Rennen am Nienhausen Busch. Manchen verkauft der Programm-Peter seit 26 Jahren Woche für Woche ihr Programm. Über die Wettveteranen hat er eine eigene Theorie: "Jeder zweite von den alten Bergleuten hatte ja Tauben. Und wenn die bei schlechtem Wetter nicht starten konnten, kamen die Kumpels zum Trabrennen."

Peter muß es wissen, schließlich war er selbst bis vor fünf Jahren auf der Zeche "Schlegel und Eisen" in Herten unter Tage. Woher wissen die Wettmeister denn, auf wen zu setzen sich lohnt? "Die alten Hasen kommen morgens mit der Stoppuhr, wenn die Pferde gehen." Was ich nicht getan habe. Aber Peter orakelt zu mir und dem Sonnenbrillenopa: "Schaut mal im sechsten Rennen die Fünf. Man hört ja schon mal was beim Pläuschchen an der Bahn." Und dann lacht er noch hinterher: "Mancher ist hier reich geworden. Und die Verlierer haben es irgendwann gelassen."

Im Untergeschoß der Tribüne brüten die Poloträger schon über Papieren, Heat und den gelben Wett-Scheinen. Die Halle verströmt mit ihren kalkigen Wänden, grün-weißlichen Kunstofftischen und Neonröhren ein wenig vom Volkskammerflair des real-existierenden Sozialismus. Noch hat der Bitburger "Treffpunkt am Ziel" geschlossen. Ebenso die köstlichen Fritierfettduft verströmende "Bratwurst-Ecke". Zeit, sich Gedanken übers Wetten zu machen. Satzfetzen hallen durch den Raum: "Die Hildebrandt braucht nur mal 'nen guten Tag" und immer wieder "Wewering". Heinz Wewering ist Weltmeister der Profitraber und fährt mit dem Nimbus von 13 000 Siegen im Sulky. Wer das mit dem Sulky noch nicht mitgekriegt hat: Beim Trabrennen trabt das Pferd, und der Jockey sitzt im Wagen hinten drin, beim Galopprennen galoppiert er oben drauf.

Aber statt einer Siegwette auf das As setzte ich eine simple Platzwette auf die Heat-Favoriten Campo Express und Kinsey Flait. Da gibt es eine miese Quote, aber immerhin etwas, wenn die unter den ersten dreien sind. Und am vergangenen Donnerstag waren beide "turmhoch überlegen", wie die Fachpresse zu berichten weiß. Über so wenig Wagemut können zwei Ruheständler neben mir nur den Kopf schütteln. Karl mit goldener Uhr und Herztattoo auf dem linken Arm, Hans leutselig und rund wie Pu, der Bär, schwören beide auf die Dreierwette: Geringe Chancen, die drei Sieger in richtiger Reihenfolge vorherzusagen, dafür eine hohe Quote. Die ist hin und wieder sogar fünf- bis sechsstellig.

Trifft keiner auf der Bahn die Dreierwette, gewinnen alle, die wenigstens auf die drei ersten Pferde in beliebiger Reihenfolge getippt haben. Bei der Zweierwette gilt ähnliches - allerdings erhält man als Gewinner bloß den zehn- bis fünfzigfachen Einsatz zurück. Eine erfolgreiche Dreierwette haben die beiden Gelsenkirchener mit kühnen Plänen nötig: "Dann können wir auf dem Ballermann so richtig einen loslassen", träumt Karl. Seit zehn Jahren wohnt der pensionierte Dachdecker mit Hans zusammen. Der hat "auf'm Büro gearbeitet", wie er stolz verkündet. Als die Gemahlinnen von ihnen geschieden waren, gründeten die Herren ihre Alters-WG. Hans linst zum immer noch geschlossenen "Treffpunkt am Ziel" und ärgert sich: "Ich hab' Brand, und die Alte macht die Bude nicht auf!" Macht sie dann doch, und Hans kehrt mit zwei Bitburgern zurück.

Eine Minute bis zum Start. Vorne an der Bahn steht neben mir ein Typ mit roter Birne und Fett-Tolle, pfeift die Melodie von "Rivalen der Rennbahn" und hofft, daß Wewering Erster wird. Seinen Kumpel hat er schnell noch mit Wettscheinen losgeschickt, nun starrt er das Fieldboard an. Die Eventualquote auf Wewerings Pferd steht derzeit bei 38. Siegt das Tier, gibt es nach derzeitigem Wettstand für einen Zehner Einsatz 38 Mark. Der Start ist dann recht unspektakulär. Von wegen alle auf einmal losrennen. Beim üblichen Autostart laufen die Pferde hinter einem Startwagen her, der beschleunigt bis zur Startmarke auf Renngeschwindigkeit, und dann geht es los. Wann das nun genau ist, bekommt aber niemand so richtig mit. Irgendwann laufen die Tiere halt.

Eigentlich ist das Pferdegerenne auch egal. Die Profis sitzen eh drinnen und schauen sich alles auf dem Fernsehschirm an. Virtuell wie der Golfkrieg wird hier, mit Quoten, Kommentaren und schönen Bildern versehen, geliefert, was draußen passiert. Nur Frauen, Kinder und Anfänger stehen an der Bahn.

Meine beiden Pferde werden Erste, Wewering nur Dritter und infolgedessen Fett-Tolle noch röter: "Scheiße, der Drecksack Wewering!" Der Wutschweiß glänzt und perlt. Für meine zehn Mark Einsatz kriege ich zwölf raus. Es wetten halt zu viele auf die Favoriten.

Bei den nächsten vier Rennen läuft es ähnlich, obwohl ich jetzt bei den wirklichen Profis drinnen am Schirm weile. Sechs emeritierte Kumpel von Zollverein sitzen an einem weißen Campingtisch in der Ecke der DDR-Halle. Einer der Kohleschürfer kommt seit 1958 zum Wetten. "Aber nur donnerstags. Sonntag muß ich mit der Frau spazieren", betont Alfred Schwieger. Im Campingstuhl sitzt der 84jährige in seinen grauen Parka eingemummelt. Ab und zu beugt er sich auf den Gehstock gestützt zum Fernsehschirm vor. Schwieger rückt den Hut zurecht und erzählt von der Zeit als Vorarbeiter auf Schacht 12. Ja, Zollverein. Das waren Zeiten. Heiße Tips hat er nicht. Wichtiger als das große Geld sind ihm die alten Kumpel: "Mal geh' ich mit mehr, mal mit weniger als vorher nach Hause." Aber fürs Taxi hat er immer eine eiserne Reserve.

So wie es aussieht, werde ich wohl mit dem erspielten Gegenwert einer Currywurst samt Bitburger abziehen. Caspar, Programm-Peters Tip und Nummer fünf im sechsten Rennen, startet nicht. Bevor der Fatalismus überhand nimmt, setzte ich einen Zehner auf Sieg und Leone, den Gaul von Drecksack Wewering. Kaum zu erkennen, wer gewonnen hat. Leone zieht Kopf an Kopf mit Graf Santana durchs Ziel. Ich sehe Fett-Tolle wieder, diesmal ruft er was von "Totes Rennen". Heißt: Mehrere Pferde gleichzeitig auf der Ziellinie und unentschieden. Und wieder irrt sich der Rotkopf mit dem Fetthaar: Einen Sieger gibt es doch. Und zwar Wewering. Was Fett-Tolle wohl ärgert und noch mehr schwitzen läßt, mir aber 25 Mark bringt.

Mit einem leichten Siegesgefühl ziehe ich von dannen, obwohl ein Gutteil des Nettogewinns eben für Currywurst und Bitburger draufgegangen ist. Programm-Peter meint am Ausgang zu meinen 15 Mark: "Ist doch auch Geld." Er wettet übrigens nie.