Dann kann er was erzählen

Régis Debray fährt in das Kosovo und bestellt Pizza beim Albaner. Der Streit um die unstatthafte Kriegsberichterstattung

Eine Reise nach Serbien und in die Dörfer des Kosovo rückte in den vergangenen zwei Wochen ins Zentrum einer Polemik unter Frankreichs Intellektuellen. Ausgelöst hat sie Régis Debray, der nach seiner Rückkehr aus dem Kriegsgebiet in der linkspatriotischen Zeitschrift Marianne seine Eindrücke von der Situation des Landes schilderte. Die Kritik entzündete sich vor allem an Aussagen wie dieser: "Man kann heute in Pristina", so Debray, "in einer albanischen Pizzeria mit Albanern essen."

Dem Streit um den Reisebericht war eine scharfe Auseinandersetzung zwischen Régis Debray und Alain Finkielkraut in Le Monde vorausgegangen. Bereits am 1. April publizierte Debray unter dem Titel "Das schlafwandelnde Europa" einen Essay, worin er den Befürwortern der Nato-Luftschläge vorwirft, sie hätten sich auf eine "amerikanische" Wahrnehmung des Konfliktes eingelassen. "Amerikanisch", das bedeutet für Debray das Fehlen von Geschichtsbewußtsein und historischen Bezügen.

"Man kann sagen", hatte Debray geschrieben, "ein Denken sei amerikanisiert, wenn es die Zeit durch den Raum ersetzt, die Geschichte durch die Technik und die Politik durch das Evangelium." Diesen Unterschied zwischen "europäischer" und "amerikanischer" Herangehensweise erklärt Debray aus der Eroberung Amerikas als "geschichtsfreiem" Raum: "In Europa mußten das Gesetz und die Geschichte Kompromisse eingehen, weil die Geschichte zuerst da war; in den USA ist es das Gesetz, verstanden als direkter Vertrag mit Gott, der der Geschichte vorausgeht und sie schafft."

Doch gerade "in diesem tragischen und pessimistischen Europa, wo sich alle Kulturen der alten Welt gekreuzt haben", müsse die amerikanische Konfliktbewältigungsstrategie scheitern, insbesondere auf dem Balkan, wo "eine sorgfältige Kenntnis der Jahrhunderte alten Konflikte" notwendig sei. Es sei wünschenswert, daß Europa das "richtige Maß findet", um "zwischen der historischen Überlastung", die auf dem Balkan wirksam ist, und "der Auslöschung der Geschichte, die im Middle West wirkt", zu vermitteln, denn in Belgrad und Pristina sei Europa mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert: Osmanische Invasion, Orient-Frage, Vertrag von Versailles. Doch Europa habe "die intellektuelle Beherrschung seiner Vergangenheit" verloren, und "der Beherrschte (Europa; B.S.) denkt sich in den spezifischen Formen der Herrschenden (Amerika; B.S.), in Bildern und Slogans: Rechtsstaat, Demokratie, Freiheit".

Diese kulturpessimistische, antiamerikanische Stellungnahme paßt zum intellektuellen Werdegang Régis Debrays: Ehemaliger Linksrevolutionär in den sechziger Jahren und Wegbegleiter Che Guevaras in Bolivien, war er unter Fran ç ois Mitterrand ab 1981 in die Nähe der Macht gerückt und zum inoffiziellen Berater des Präsidenten avanciert. In den neunziger Jahren suchte er die Nähe zu den "National-Republikanern", wie man in Frankreich die linkspatriotische Strömung um den derzeitigen Innenminister Jean-Pierre Chevènement nennt. Deren Vertreter beklagen den Niedergang von Politik und staatlicher Souveränität angesichts des Vordringens neuer und besonders multinationaler, etwa an die EU gebundener Formen kapitalistischer Vergesellschaftung und halten demgegenüber an der Idee republikanischer Staatlichkeit fest.

Auf Debrays Vorwurf, Europa agiere "amerikanisch", antwortete in Le Monde der Philosoph Alain Finkielkraut. Er gehört zu jenen "modernen" und "antitotalitären" Intellektuellen, die bereits 1993 auf eine Militärintervention gegen Serbien drängten. Finkielkraut warf Debray vor, über der ideologischen Verarbeitung der Realität dieselbe aus den Augen verloren zu haben und rechnete zugleich mit all jenen ab, die die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit betrachten und eine wiedererwachende deutsche Großmachtpolitik am Werk sehen.

Den Vorwurf der Realitätsferne wollte Debray nicht auf sich sitzen lassen: Er reiste nach Jugoslawien, um vor Ort zu recherchieren. Daß er von den Belgrader Behörden die Erlaubnis erhielt, in den Kosovo zu reisen, ließ viele Kommentatoren von vornherein an der Neutralität seines Berichts zweifeln. Der Verfasser besteht jedoch darauf, lediglich in Begleitung eines Dolmetschers den Kosovo bereist zu haben. Insgesamt neun Tage hat er in Serbien verbracht, vier davon im Kosovo. Sicherlich zu kurz, um sich ein Bild von der Situation machen zu können. Aber für seinen schärfsten Kritiker, Bernard-Henri Lévy eigentlich kein Grund zur Aufregung. Lévy hatten im Sommer 1998 ganze vier Tage Aufenthalt in Algerien genügt, um anschließend auf zwei Doppelseiten in Le Monde seine Einsichten über das Land zu publizieren.

Debray betont, er sei mit vielen Fragen, aber nur wenigen Antworten aus dem Kriegsgebiet zurückgekehrt. Aber bereits mit der Infragestellung der als Wahrheiten gehandelten Informationen brachte er die Befürworter der Intervention gegen sich auf. So berichtet Debray von zerstörten Dörfern, aber er könne nicht beurteilen, "welche Verwüstungen dem Bürgerkrieg zwischen UCK und serbischen Kräften geschuldet sind, was nachträglichen Repressalien gegen die Bewohner, was den Nato-Bomben und was der ethnischen Säuberung".

An anderer Stelle schildert Debray die Begegnung mit serbischen Paramilitärs, vor deren Zugriff er durch serbische Offiziere bewahrt worden sei. Daß er als prominenter ausländischer Beobachter in einer privilegierten Position ist, verschweigt Debray dabei nicht: "Ein Albaner, glaube ich, wäre nicht davongekommen. Ich ahne, was hier vor einigen Tagen geschehen sein könnte. Das Schlimmste." Den Vorwurf der Naivität handelte Debray sich insbesondere mit einer Passage ein, in der er ein Gespräch mit einem Popen der orthodoxen Kirche wiedergibt. Dieser habe ihm versichert, daß dies "kein Religionskrieg zwischen Islam und Christentum" sei, "wie es manche Theoretiker des serbischen Nationalismus glauben machen wollten". "Sehen Sie nur", zitiert Debray den Geistlichen, "keine der Moscheen ist beschädigt." Angesichts der Rolle, welche der orthodoxe Klerus in der nationalistischen Mobilisierung gespielt habe, sei diese Aussage ein Witz, so die Kritiker.

In einem Offenen Brief an Präsident Jacques Chirac, der in Le Monde veröffentlicht wurde, geht Debray noch einen Schritt weiter und klagt die politischen Konsequenzen ein. Er wirft darin eine Reihe von Fragen auf, darunter jene, ob die Nato nicht in Wahrheit einen Krieg gegen ein ganzes Volk führe, während man vom Kampf gegen einen Diktator spreche. Den Vergleich zwischen Milosevic und Hitler weist Debray entschieden zurück, man habe es nicht mit einem überlegenen Gegner zu tun, sondern mit einem schwachen und isolierten Land. Für Debray drängt sich statt dessen eine andere historische Parallele auf, er vergleicht das Vorgehen der Serben im Kosovo mit der französischen Kolonialpräsenz in Algerien.

Zweifellos enthält der Reisebericht eine Reihe von Ungeschicklichkeiten und wirkt an einigen Stellen provozierend naiv. So betont Debray, Milosevic könne auf den Café-Terrassen frei kritisiert werden, blendet aber die Frage der Medienzensur dabei völlig aus. Dennoch hat es wenig mit den Inhalten seiner Reportage zu tun, wenn viele Intellektuellen ihn als "Kollaborateur" anprangern.

So setzt Lévy ihn in Le Monde mit dem faschistischen Schriftsteller Pierre-Eugène Drieu La Rochelle und Belgrad mit dem Berlin des Nationalsozialismus gleich. Der Sozialforscher Alain Joxe spricht von einem "Anschluß an revisionistische Thesen" und unterstellt die "Weigerung, die Demokratie gegen den Faschismus zu wählen". Und für den Historiker Bernard Lemaitre ähnelt Debrays Haltung jener "eines Mitglieds des Roten Kreuz, das im Zweiten Weltkrieg ein KZ besucht und sich davon überzeugt hat, daß es sich um ein Ferienheim handelt". Geradezu lumpenhaft ist es aber, wenn Kriegsbefürworter Alain Joxe Debray vorwirft, die "ethnische Säuberung" zu verharmlosen, indem er sie mit einer "kleinen antiterroristischen Operation wie in Algerien" vergleiche.

Tatsächlich hatte Debray an dieser Stelle scharfe Selbstkritik aus französischer Sicht geübt, indem er daran erinnerte, wie Frankreich während der Algerien-Kriege eine Million Zivilisten in Lager gepfercht habe, um "den Terroristen das Wasser abzugraben".