Der neue Nachbar

Die Isolation beenden, aber hart bleiben: Mit Ehud Barak wird ein gemäßigter Falke israelischer Ministerpräsident

Dieses Mal war es keine Zitterpartie bis zum Schluß. Schon kurz nach Schließung der Wahllokale stand das Ergebnis fest, und die letzten Meinungsumfragen erwiesen sich als zuverlässig. Ehud Barak (Arbeitspartei) hatte 56 Prozent der Stimmen erhalten und den amtierenden Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu mit 44 Prozent deutlich hinter sich gelassen. Zwar war ein Wahlsieg Baraks in den letzten Tagen vor der Wahl bereits erwartet worden, doch wertete man ihn in Israel als politischen Erdrutsch, vergleichbar nur mit dem Wahlsieg von Menachem Begins Likud im Jahre 1977.

In der linken und liberalen Öffentlichkeit wurde die Abwahl Netanyahus mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen. "Die israelische Gesellschaft", so brachte die Tageszeitung Ha'aretz die Hoffnungen zum Ausdruck, "dürstet mehr denn je nach einer glaubwürdigen, sauberen und maßvollen Führung, die ihre Spaltungen zu überwinden sucht."

Bei der radikalen Linken hingegen sind die Erwartungen eher gedämpft. Zwar freut man sich auch darüber, daß, so Adam Keller und Beate Zilversmidt in der Zeitschrift The Other Israel, "die israelische Öffentlichkeit den Appell an die niedersten nationalistischen Ängste und Phobien zurückgewiesen" hat. Doch man ist sich auch im klaren darüber, daß schon bald die Opposition gegen den neuen Ministerpräsidenten organisiert werden muß, zu dessen Wahlsieg man selbst beigetragen hat. Die große Gefahr liegt in einer Wiederholung der Situation von 1992, als nach dem Wahlsieg von Rabin weite Teile der Friedensbewegung ihre Aufgabe als beendet ansahen.

Die Gründe für den Sturz der Likud-Regierung sind heute allerdings andere. Netanyahus Wahlsieg von 1996 basierte auf der fast vollständigen Mobilisierung von drei traditionell benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen: der hauptsächlich sephardischen Unterschichten in den Entwicklungsstädten, der Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und der Nationalreligiösen.

Alle drei Gruppen waren jedoch nach drei Jahren von der Regierung so enttäuscht, daß sie dieses Mal zu einem nicht unerheblichen Teil Barak wählten. Die unterprivilegierten Sephardim sahen sich durch die neoliberale Wirtschaftspolitik noch weiter marginalisiert. Die mehrheitlich säkularen russischen Einwanderer wurden von der Zuwendung Netanyahus zu den Orthodoxen und einer wachsenden Diskriminierung verprellt. Und selbst die Nationalreligiösen wandten sich von ihrem Hoffnungsträger ab, nachdem dieser die Abkommen von Hebron und Wye unterschrieben hatte. Netanyahus heterogene Koalition mit den Interessenvertretern der verschiedenen Sektoren der israelischen Unterschicht war zerbrochen.

Bei den Wahlen zur neuen Knesset konnte die Arbeitspartei allerdings nicht vom Einbruch des Likud profitieren. Während dessen Fraktion sich von 32 auf 19 Sitze fast halbierte, verlor die Arbeitspartei trotz ihres Bündnisses mit den Parteien Meimad und Gescher acht Sitze und landete bei 26 Mandaten. Die Verluste des Likud teilen sich die Zentrumspartei von Yitzhak Mordechai und die neu gegründete anti-orthodoxe Partei Shinui von Tommy Lapid. Auch die arabischen Parteien und das liberale Bündnis Meretz konnten jeweils einen Sitz zulegen. Die nationalistische Rechte, bestehend aus der Nationalreligiösen Partei und Benjamin Begins Nationaler Union, hingegen verlor drei Sitze. Insgesamt also hat es auch im Parlament eine leichte Linksverschiebung gegeben.

Sehr viel bedeutender ist jedoch ein anderes Ergebnis: Die sephardisch-orthodoxe Partei Shas sprang von zehn auf 17 Sitze und muß jetzt zu den drei großen Parteien Israels gezählt werden. Den Befürchtungen der israelischen Linken, daß Shas den Likud als die große Partei der israelischen Rechten ablösen könnte, sind so gestärkt worden. Shas konnte am meisten von der Enttäuschung der sephardischen Unterschichten profitieren.

Die Partei ist der politische Arm einer sozialen und geistigen Bewegung, die, ähnlich den islamistischen Organisationen, ihre Anhänger durch kostenlose Kindergärten und das Angebot einer religiösen Identität gewinnt. Doch trotz ihres fulminanten Wahlerfolgs könnte sie einer der Verlierer sein. Denn in den letzten Jahren gehörte Shas noch jeder Regierung an. Zuletzt aber hatte sich die Partei gleichzeitig auf die Seite Netanyahus gestellt und so radikalisiert, daß sowohl Meretz als auch Shinui die Ausgrenzung von Shas zur Bedingung ihres Eintritts in eine Koalition gemacht haben.

In Israel macht deswegen zur Zeit der Spruch "Von Shas-Kontrolle zu Nash-Kontrolle" die Runde, der auf den Vorsitzenden der russischen Einwandererpartei Israel B'Aliyah, Nathan Sharansky, anspielt. Die rund 750 000 russischen Immigranten nehmen eine immer wichtigere Rolle in der israelischen Politik ein, inzwischen hat sich eine zweite Partei, die rechtsgerichtete Israel Beitenu von Avigdor Liebermann, gegründet. Sharanskys Israel B'Aliyah hat von Barak das Innenministerium bereits zugesichert bekommen, wodurch die Partei die Kontrolle über die Einwanderungspolitik erhält.

Außer Shinui und Meretz werden der neuen Regierung mit Sicherheit die Zentrumspartei und die Gewerkschaftspartei Eine Nation angehören. Um nicht auf die Stimmen der arabischen Parteien und der Kommunisten angewiesen zu sein, wird Barak voraussichtlich noch mindestens eine Partei der Rechten in seine Regierung einbeziehen. Ob dies Shas oder Likud sein wird, ist noch offen.

Beide Rechtsparteien haben sich, um den Weg für eine Koalition frei zu machen, direkt nach den Wahlen von ihren desavouierten Spitzen getrennt. Netanyahu ist vom Vorsitz des Likud zurückgetreten, und der Shas-Vorsitzende Aryeh Deri, der wegen Korruption zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, will sich ebenfalls zumindest vorläufig aus der Politik zurückziehen. Damit steht Barak vor der Wahl zwischen einer orthodoxen und einer nationalistischen Erweiterung seiner Regierung. Mit dem Likud könnte er eine deutlich säkularere und liberalere Politik verfolgen, während Shas der einfachere Partner für eine Fortsetzung des Friedensprozesses wäre.

In den letzten Monaten, und insbesondere im Wahlkampf, ist so ein neuer Konflikt ins Zentrum der israelischen Politik gerückt, der die Frage des Friedens und der Sicherheit ein Stück weit in den Hintergrund drängt: der Konflikt zwischen den religiösen und den säkularen Teilen der Gesellschaft. Von den Israelis wird dies vielfach als der entscheidende Kampf um die Zukunft des Landes gesehen. Für die in der Friedensbewegung engagierte israelische Linke liegt hier ein großes Problem. "Ihre wichtigsten Ziele", befürchten Adam Keller und Beate Zilversmidt, "Gleichheit, Gerechtigkeit und dauerhafter Friede, scheinen in der Öffentlichkeit gegenüber dem neuen Zorn auf die Orthodoxen zu verblassen."

Ein weiteres Problem könnte Baraks politische Agenda sein. Denn innenpolitisch zielt seine Politik auf gesellschaftlichen Ausgleich, was auch Kompromisse mit den Ultraorthodoxen und mit den Nationalisten beinhalten kann. Außenpolitisch steht die Aufhebung der von Netanyahu verursachten Isolierung Israels ganz oben auf Baraks Liste. Sowohl zu den Vereinigten Staaten als auch zu Israels arabischen Nachbarn soll das Verhältnis verbessert werden. Insofern scheint der von Barak angekündigte Rückzug aus dem Libanon binnen eines Jahres durchaus möglich zu sein, gehört doch auch Syrien zu den Adressaten dieser Politik.

Eine außenpolitisch erfolgreiche Offensive könnte es Barak zudem leichter machen, gegenüber den Palästinensern eine harte Haltung zu zeigen. Dies entspräche dem Image, das er sich im Wahlkampf gegeben hatte.