Pfefferzähler

"Nackt" - David Sedaris rehabilitiert die hochneurotische Familie

Gutmenschen sind unmoralisch, das weiß jeder. Je netter sie zu ihren Mitmenschen sind, desto verblödeter wirken sie auf ihre Umwelt. Wenn sie beispielsweise am Telefon ihrer Mutter sagen, daß sie sie lieben, meinen sie meistens damit, daß sie jetzt lieber auflegen würden. Prompt halten sie bei trampenden Rollis an, entschuldigen sich dafür, daß ihr Auto zu klein ist für einen Rollstuhl und verschenken statt dessen ihren popeligen Proviant. Sie bilden sich ein, meint David Sedaris, sie wüßten, wie man Menschen verändert und brechen nicht selten unter der Last der politischen Anstecker zusammen, die sie an der Jacke tragen.

Zyniker hingegen sind die einzig wahren Humanisten. Sie machen sich nichts vor, sind böse und verbittert und unheimlich klarsichtig. Wenn sie beispielsweise in einer Psychiatrie arbeiten, würden sie am liebsten die Patienten "am Hinterkopf packen, sie mit der Stirn gegen die Wand donnern und anschreien: 'Hör auf, dich wie ein Idiot zu benehmen, und werd gesund, verdammt nochmal!' Dann bemerken sie die blauen Flecken, mit denen sie übersät sind, und es wird ihnen klar, daß es schon mal jemand mit dieser Herangehensweise versucht hatte."

Das ist der Hintergrund, vor dem auch amerikanische Sitcoms wie die dumpfbackige Familie des Schuhverkäufers Al Bundy funktionieren. Diese Familien wissen sehr genau um ihr Elend, beschimpfen sich, durchschauen und verfluchen das System, in dem sie doch funktionieren wie am Schnürchen. Die Tatsache, daß es nächste Woche weitergeht, daß sie einfach nicht auseinandergehen können und daß es so ein verschwommenes, verborgenes Zentrum der totalen Sicherheit gibt, macht ihren schlagfertigen Witz nicht nur zugänglich, sondern paradoxerweise immer ungenießbarer.

Zieht man die Auflösung und den Kompromiß am glücklichen Ende der Geschichte ab, hat man es mit einer Scharfzüngigkeit, mit radikalen Infragestellungen nationaler Mythen zu tun, die im deutschen Vorabendprogramm noch lange ihresgleichen suchen werden. Auch David Sedaris setzt mit seinen siebzehn angeblich autobiographischen Geschichten auf dieses Prinzip. Und schon geht es los mit diesem ziemlich außergewöhnlichen Ich-Erzähler. Er wächst in einem stinknormalen Nest auf, irgendwo in North Carolina, in einer Familie mit fünf Geschwistern, alkoholsüchtige und kettenrauchende Mutter und miesepetriger Vater inklusive.

Als wäre es das Normalste der Welt, reagiert dieses Ich auf seine Umwelt, indem es im Klassenzimmer Lichtschalter, Glühbirnen und Besenstiele, auf dem Schulweg Briefkästen und Gartenzwerge ableckt, zu Hause Pfefferkörner zählt und immer wieder kontrolliert, ob der Deckel vom Mayonnaise-Glas auch fest genug zugeschraubt ist. Das knirscht, ist makaber, aber zum Totlachen. Und alles andere als tragisch. Denn niemand zweifelt jemals daran, daß dieses bemitleidenswerte und garstige Ich jederzeit damit aufhören könnte.

Ein ziemlich fragwürdiger Held, der nicht vor einer einzigen Gemeinheit gefeit ist, mit denen das Leben einen so konfrontiert. Ein Held, der seine Oma als Geldautomat benutzt. In den diversen Jobs als halbwüchsiger Laiendarsteller, Apfelpflücker, Jadeschnitzer, Putzhilfe, Abbeitzer und Nudistenbeobachter sieht er bald ein, daß er es nie weit bringen wird.

"Nackt", das sind siebzehn Geschichten, eine Chronologie des glanzvollen Scheiterns, eine bösartige, charmante, hämische und zärtliche Hymne auf die Versager, die Verzweifelten und die Zweifler, die irgendwie, so richtig können sie es sich auch nicht erklären, im Netz der Erfolgsgesellschaft durchgefallen sind. "Nackt" ist eine Liebeserklärung an ihre Marotten und Neurosen. Seine Figuren, sowohl der Erzähler als auch seine sogenannten Mitmenschen, sind schief gewickelte Hanswürste, gebrochene Typen in bedenklicher Schräglage. Sie haben eine seltsame Distanz zu sich selbst und pflegen schauerliche Macken: Die griechische Großmutter, die den Nachbarn die Grünpflanzen vom Rasen pflückt, um daraus Paste zu kochen. Die an den Rollstuhl gefesselte Freundin, mit der man Supermärkte plündern kann, weil sich kein Verkäufer traut, sie des Diebstahls zu bezichtigen. Bob, der Schwager, der als Totengräber arbeitet. "Eine Karriere-Entscheidung, die auf einen erfrischenden Mangel an Ehrgeiz schließen ließ."

Das alles hat so etwas Selbstverständliches, lakonisch Beiläufiges. So schnell fällt einem kein Beispiel ein, wo der amerikanische Traum vom "Universal Tellerwäscher" wohltuender demontiert worden wäre, die Ideologie von der Chancengleichheit, vom Land der tausend Möglichkeiten, von der Colgateweißen Zwangsbeglückung und der dazu notwendigen Infantilisierung der Leute. "Aber was für ein Mensch wäre ich, wenn ich von Natur aus glücklich wäre?" fragt sich der Erzähler einmal in der Sauna. "Ich habe solche Leute in Erbauungssendungen gesehen und sie machen mir angst."

Ein andermal, kurz vor Weihnachten, erhält die Familie Besuch von der besten Freundin der Schwester, einer Prostituierten. Während der Vater wie üblich in Unterhosen vorm Fernseher döst, bietet die Mutter ihrem Gast aus Gewohnheit einen Drink an. Man begibt sich in die Küche, und die Kinder löchern die exotische Fremde mit Fragen: "Wieviel berechnen Sie, wenn jemand sich nur auspeitschen lassen will?" Die Mutter fährt dazwischen: "Laßt sie in Ruhe antworten." Während sie so beisammen sitzen, fällt beim Erzähler langsam der Groschen, wie revolutionär das ist, was seine Familie da gerade macht. Und heftiger, ungebrochener Stolz macht sich in ihm breit.

Ekel, Abgründigkeit, Übertreibung, desillusionierende Enthüllungswut: In Sedaris' Welt geht das, weil es da dieses geheime Zugehörigkeitsgefühl gibt. Nur das bringt Sedaris' Geschichten zum Drehen: Die tiefe, bedingungslose und abgöttische Liebe zur Mutter ist in den Erzählungen das, was für Sitcoms die Gewißheit ist, daß es sie nächste Woche wieder geben wird. Es ist die Sicherheit im Rücken, die nach vorne feste treten läßt.

Überhaupt, die Mutter! Sie ist die beeindruckendste Figur bei Sedaris. Alle haben es darauf abgesehen, ihr das Leben zur Hölle zu machen. Der eigene Sohn erschreckt sie mit spastischem Kopfwackeln, die Töchter spielen statt Puppenhaus Puppenbesserungsanstalt, und der Ehemann ist sowieso abgestempelt. Sie nimmt es gelassen, lackiert sich die krustigen Zehennägel und trinkt einfach ein paar Cocktails mehr. Als die Nachbarn Fotos von Enkelkindern vorführen, kontert sie: "Alle meine Enkelkinder sind zu Kunstdünger zermahlen worden, oder was man sonst mit abgetriebenen Föten macht. Dadurch habe ich sie zu meinen Füßen und nicht am Hals, was mir persönlich sehr entgegen kommt."

Dann kommt der Krebs. Anstatt Körner zu essen, die Morgendämmerung zu begrüßen und mit dem Tumor zu reden, schreibt Sedaris, bedroht die Mutter ihn und beschließt dann, ihn zu ignorieren. Kein Ausstieg in Sicht. Als die Kinder ihr vorschlagen, Hobbys zu pflegen, sagt sie nur: "Bitte ruft mich nicht bekifft an."

Es wurde gemutmaßt, Sedaris habe die Geschichten wirklich selbst erlebt. Was aber spielt das für eine Rolle? Natürlich ist im Erfundenen auch bei Zauberern wie Sedaris immer ein Rest Gefundenes drin. Wenn aber die Erzählung glaubwürdig sein soll, muß sie bei Sedaris immer ausgedacht, erstunken und erlogen, total überzogen und so schräg wie möglich sein. Genau so funktioniert "Nackt", ein episodischer Schelmenroman, eines der lustigsten, traurigsten und bodenlosesten Bücher dieses Frühlings.

David Sedaris: Nackt. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Haffmans, Zürich 1999, 325 S., DM 39