Vertrauensbildende Maßnahmen

Zu Beginn des Öcalan-Prozesses sitzen noch über hundert Kurden in deutschen Gefängnissen, weil sie gegen die Verhaftung des PKK-Chef demonstrierten

Besetzungen, Demonstrationen, Hungerstreiks - die Reaktionen auf die Festnahme des Abdullah Öcalan ließen nicht lange auf sich warten. Ob in Rom, Wien, Straßburg oder Berlin, europaweit gingen Kurden und Kurdinnen nach jenem 16. Februar auf die Straße, an dem der PKK-Chef aus Kenia in die Türkei entführt worden war. Die Angriffsziele: griechische, türkische und israelische Botschaften in mehreren europäischen Staaten. Doch während man in deutschen Innenministerien dem Ruf eines von Krawallkurden geplagten Staates gerecht werden wollte und mal schnell 2 100 Personen festnahm, verliefen die Aktionen im nahegelegenen Ausland eher glimpflich.

So fand etwa die Besetzung der griechischen Ländervertretung in Wien "ohne Zwischenfälle" statt, wie Erol Polat vom österreichischen Büro der PKK-nahen ERNK der Jungle World bestätigt. "Sowohl die Regierung als auch wir wollten keine Eskalation", sagt Polat. Abgesehen von den Freiheitlichen des rechtsradikalen Populisten Jörg Haider habe die Öffentlichkeit mit Verständnis auf das Vorgehen der Kurden reagiert.

Auch in Holland, Italien und der Schweiz gehen die Verfolgungsbehörden bis heute zurückhaltender vor. Der kurdischen Rechtshilfeorganisation Azadi liegen keine Informationen darüber vor, daß es eine auch nur annähernd mit Deutschland vergleichbare Dimension von Ermittlungsverfahren gibt.

Dabei hatte Bundesinnenminister Otto Schily schon eine Woche nach den Auseinandersetzungen verkündet, er und seine EU-Amtskollegen hätten sich auf ein einheitlich hartes Vorgehen ge-gen die PKK verständigt. Zeitgleich drohte Kanzler Gerhard Schröder, "kein Rechtsbrecher" solle glauben, daß er sich hinter Völkerrecht und Asylgesetzen verstecken könne.

Die Bilanz: Noch heute sitzen über hundert Kurden und Kurdinnen bundesweit in Untersuchungshaft, allein 72 in Leipzig, die an der Besetzung des griechischen Konsulats in der Messestadt beteiligt gewesen sein sollen. Sechs bis acht von ihnen erwartet nun ein Verfahren wegen Geiselnahme. Sie müssen, so befürchtet der Berliner Verteidiger Ulrich von Klinggräff, mit einer Haftstrafe von mindestens fünf Jahren rechnen. Gegen die anderen ermittelt die Leipziger Staatsanwaltschaft wegen Land- sowie Hausfriedensbruch, Wi-derstand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung. Mit Ausweisungen rechnet Anwalt von Klinggräff jedoch nicht, obwohl diese beim Vorwurf des schweren Landfriedensbruchs auch ohne entsprechende Verurteilung möglich sind. "Die meisten Beschuldigten stehen im Asylverfahren und genießen deshalb besonderen Ausweisungsschutz." Die Lex PKK, wie das nach Auseinandersetzungen während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz 1994 verabschiedete Gesetz genannt wird, dürfte hier also nicht greifen.

Ähnlich ist die Situation in Berlin, wo 15 Verdächtige in U-Haft sitzen und gegen 140 Kurden und Kurdinnen ermittelt wird. Auch dort besteht für alle ein besonderer Ausweisungsschutz. Das aber hat die Ausländerbehörde nicht daran gehindert, schon mal in Formbriefen "aufenthaltsbeendende Maßnahmen" anzukündigen. Grund zur Sorge haben etwa 70 Beschuldigte, denen die Beteiligung an der Besetzung der israelischen Botschaft vorgeworfen wird.

Bei acht bislang fertiggestellten Anklageschriften ist nach Einschätzung von Gerichtssprecher Matthias Rebentisch mit einem "Strafmaß von über vier Jahren Gefängnis" zu rechnen. Und damit auch mit einer Abschiebung. Schließlich wird nach dem Ausländergesetz jeder abgeschoben, der zu einer Haftstrafe von über drei Jahren verurteilt wurde. Viel Zeit bleibt nicht: Schon im Juli sollen zwei große Prozesse vor dem Berliner Landgericht beginnen.

Noch eiliger reagierten die Strafverfolger in Stuttgart. Nur eine Woche nach der Geheimdienstaktion gegen Apo Öcalan begann im Stammheimer Gerichtssaal eine ganze Serie von Schnellverfahren. Das Ergebnis: 18 Haftstrafen zwischen fünf und sieben Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt sowie vier weitere Urteile, in denen zwischen sechs und acht Monaten ohne Bewährung verhängt wurden. Innenminister Thomas Schäuble (CDU) war zufrieden: "Baden-Württemberg hat mit seinen beschleunigten Gerichtsverfahren bundesweit am schnellsten reagiert." Nicht nur im Strafprozeß. Neben Nordrhein-Westfalen gehörte das Bundesland zu den ersten, aus dem Kurden nach dem 16. Februar abgeschoben wurden. Mindestens sechs Menschen befanden sich nach Informationen von Azadi bereits zwei Wochen später in dem Land, aus dem sie vor Verfolgung geflüchtet waren.

Daß dort selbst nach einem Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes ein erhöhtes Risiko für "Türken kurdischer Volkszugehörigkeit" besteht, störte CDU-Politiker Schäuble freilich ebensowenig wie seine rot-grünen Düsseldorfer Amtskollegen. Ohnehin befinden sich Opposition und Regierung derzeit auf gemeinsamen Wegen, auch wenn der von der Union Mitte März im Bundestag eingebrachte Vorschlag, man möge die PKK-Mitgliedschaft mindestens als "Regel-Ausweisungsgrund" festlegen, bei den Rot-Grünen noch auf Empörung stößt. Denn mit der Ankündigung Schilys, sich von der türkischen Regierung eine rechtsstaatliche Behandlung abgeschobener PKK-Aktivisten garantieren zu lassen, tritt er in die Fußstapfen seines Vorgängers Manfred Kanther.

Der Unionspolitiker hatte 1995 mit dem gleichen Ziel Kontakt nach Ankara aufgenommen. Mit den Todesurteilen der vergangenen Woche hat die türkische Justiz die ersten vertrauensbildenden Maßnahmen für Schily schon mal vorweggenommen.