Der Spion kam pünktlich

Chinas Regierung laviert zwischen Nato-Kritik und Hoffnungen auf Aufnahme in die WTO

Das wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Nein, China sei nicht wie die USA, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums vergangene Woche in Peking, zwei Tage nach der Veröffentlichung des Cox-Reports, der China vorwirft, sich 20 Jahre lang an den Geheimnissen der US-Atombombentechnologie vergriffen zu haben. Nie habe China, so der Sprecher, von irgendeinem Staat Geheimnisse zur Atomtechnologie gestohlen, auch nicht von den USA. Und weiter, mit süffisanten Anspielungen auf den Nato-Krieg gegen Jugoslawien: China sei ein gesetzestreuer Staat, der den Frieden unterstütze und der UN-Charta folge. Und im übrigen habe die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt den Zweck, die Aufmerksamkeit von den US-Bomben auf die chinesische Botschaft in Belgrad abzulenken.

Der US-amerikanische Ausschuß unter Leitung des republikanischen Abgeordneten Christopher Cox war fleißig gewesen: 700 Seiten Material über die angebliche chinesische Spionagetätigkeit seit den siebziger Jahren wurden zusammengesammelt. Knapp ein Drittel des Berichtes wurde als geheim eingestuft und nicht veröffentlicht.

Der Report konstatiert, China habe "einen unstillbaren Hunger auf amerikanische Technologie". Aus vier US-Forschungslabors sollen Dokumente gestohlen worden sein - Pläne zum Bau von Atomsprengköpfen und Neutronenbomben, daneben auch Informationen über Raketen- und Raumfahrttechnologie. Schon in den siebziger Jahren sei ein Spion im kalifornischen Lawrence-Livermore-Laboratorium plaziert worden. Unter William Clintons Präsidentschaft seien sensible Informationen aus zwei Technologie-Exportunternehmen nach China gewandert. Die Schlußfolgerung des Reports: Chinesische Spione hätten Geheimnisse über die sieben fortgeschrittensten thermonuklearen Waffen gestohlen, mit denen sie über Atomdesign-Informationen "auf gleicher Stufe" wie die USA verfügten.

Diese Schlußfolgerung wurde jedoch in der Washington Post angezweifelt: Sie beruhe nämlich weitgehend auf einem Dokument, das ein insgeheim auf Rechnung des chinesischen Geheimdienstes arbeitender Agent dem CIA freiwillig übergeben habe, hieß es da. Und wenn chinesische Spione tatsächlich Geheimnisse über die raffiniertesten atomaren US-Killerbomben gestohlen hätten, warum sollte China das der CIA mitteilen? Ein besonders diabolischer Schachzug aus der chinesischen Desinformationsabteilung?

Zudem waren nach dem Bericht die wenigsten der chinesischen Informationsbeschaffer Profis, Amateure überwogen. Und der einzige konkret Verdächtige, der Wissenschaftler Wen Ho Lee, der im Labor von Los Alamos gearbeitet hatte, ist zwar seinen Job los, aber weiterhin auf freiem Fuß. Lee soll, so wurde im vergangenen Monat enthüllt, Computerprogramme zu Nuklearwaffen von dem Computernetzwerk in Los Alamos auf seinen Rechner heruntergeladen haben. Doch Lee, ein US-Staatsbürger, bestreitet, jemals Informationen an China weitergegeben zu haben.

Allzu groß scheint die Gefahr für die "nationale Sicherheit" der USA auch nicht zu sein. Zur Modernisierung und Verstärkung seiner Atomstreitmacht brauche China auch nach dem Cox-Report noch rund 15 Jahre. Und diese Streitmacht ist im Vergleich zu der der Vereinigten Staaten eher mickrig: Nach Angaben der US-Geheimdienste handelt es sich um rund 30 in Silos stationierte, mit Atomsprengköpfen bestückte Interkontinentalraketen und rund ein Dutzend Mittelstreckenraketen auf einem U-Boot - gegenüber mehr als 6 000 Atomsprengköpfen der USA.

Der Ton zwischen den USA und China wird härter - das zeigt diese Episode deutlich. Die "strategische Partnerschaft", die die beiden Präsidenten Clinton und Jiang Zemin 1996 vereinbart hatten, gerät unter Beschuß - nicht nur in den USA, sondern auch in China. Durch den Nato-Krieg gegen Jugoslawien ist Peking klar geworden, daß es in der internationalen Politik nur noch ein Leichtgewicht darstellt - der Sitz im UN-Sicherheitsrat ist ohne Bedeutung, wenn die Nato jenseits des internationalen Rechts Krieg führt. Was ist das probate Gegenmittel? Natürlich: Aufrüstung. Nun sollen die chinesische Luftwaffe und Navy aufgepeppt werden - zur Bekämpfung ausländischer Aggressionen.

Wird so nach außen Stärke demonstriert, ist die Situation im Innern höchst labil - angesichts der katastrophalen sozialen Folgen der ökonomischen Modernisierung (Jungle World, Nr. 13/99). Die soll, geht es nach dem Willen von Ministerpräsident Zhu Rongji, zügig voranschreiten. Schließlich will China noch in diesem Jahr in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen werden.Im April hatten Zhu Rongji und eine chinesische Delegation Washington besucht und angeblich große Zugeständnisse hinsichtlich einer Öffnung des chinesischen Marktes für ausländische Firmen und Investoren gemacht. Von chinesischer Seite heißt es nunmehr, keinem der Punkte sei zugestimmt worden. Unter anderem ging es um ausländische Beteiligungen von bis zu 51 Prozent an spezifischen Telekom-Gesellschaften und die Erlaubnis zu Import und Distribution von Ölprodukten für US-Gesellschaften in China.

Unter Berufung auf namentlich nicht ausgewiesene Quellen berichtete vergangene Woche die Washington Post von ernsten Spannungen in der chinesischen Regierung. Gegner eines zu weitgehenden Abbaus von Handelsschranken hätten Verhandler beschuldigt, "China verraten" zu haben. Die Kritisierten zahlten mit der gleichen Münze heim. Chinas WTO-Chefunterhändler Wu Longtu sagte demnach, die Kritik an Chinas Bestrebungen, in die WTO zu kommen, stamme von korrupten Beamten, die Sorge für Chinas nationale Industrien heuchelten, um ihre eigenen illegalen Aktivitäten zu schützen; die größte Bedrohung für Chinas Wirtschaft sei nicht die Senkung von Zöllen oder die Reduzierung von Quoten, sondern wuchernde Korruption und Schmuggel in den Kreisen der Bürokratie.

Der offene Konflikt zwischen den Business-Bürokraten, die auf einen nationalistischen Kurs setzen, und denen, die mit den Interessen des internationalen Kapitals verbunden sind, zeigt allerdings nur die Klemme, in der sich die chinesische Ökonomie befindet. Die Auslandsinvestitionen in diesem Jahr sind vor allem durch die Asienkrise drastisch geschrumpft, und die chinesische Wirtschaft braucht langfristig neue Technologien, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden. Andererseits wären die kurzfristigen sozialen Folgekosten, sollte der Markt geöffnet werden, enorm: Nach einer Studie des Unirule Institute of Economics in Peking würden in der Industrie rund fünf Millionen, in der Landwirtschaft weitere 7,8 Millionen Arbeitsplätze verschwinden.

Ob da die repressiven Maßnahmen, mit denen die chinesische Bürokratie nun, im Vorfeld des zehnten Jahrestags des Tiananmen-Massakers, gegen Oppositionelle und Arbeiter vorgeht, auf Dauer ausreichen, steht in den Sternen. Nur in einem Punkt hatte der mittlerweile verstorbene Deng Hsiao-Ping in seiner Rede am 9. Juni 1989 vor Offizieren recht: "Wenn der Staat zusammengebrochen wäre, wozu hätten all die Investitionen gedient? Sobald wir die Situation stabilisiert und die Ökonomie wieder angekurbelt haben, werden die Ausländer zurückkehren, um an unsere Tür zu klopfen."