Alternative Lebensformen

Rohrbruch

Mein Freund Dirk wohnt in Neukölln/ Rixdorf. Ein hartes Pflaster. Eines, wo Kneipen "Zum blauen Affen", "Chez Andi", "Durstlöscher" oder "Komma Safari ..." heißen und auch so sind. Und wie ihre Kneipen, so auch die Leute. Kein Scheiß, Mann, hier bist du besser gut gewappnet - sonst wirst du böse überrascht.

Also hatte ich, als ich Dirks Wohnung verließ, meinen Gleichgültigkeitsanzug übergestreift und mein Gleichgültigkeitsgesicht aufgesetzt und stapfte wacker die Treppe hinunter. Doch bereits im vierten Stock - aus bislang ungeklärten Gründen wohnt Dirk im sechsten Stock; vermutlich, weil er von hier aus all das ihn umgebende Elend besser überblicken kann -, im vierten Stock jedenfalls öffnete sich scharf vor mir die Tür und der übliche Neuköllner Penetranzleib schob sich mit Wucht in meinen Weg, allerdings nicht, um mich grundlos anzuschreien oder mir auf die Schuhe zu kotzen, nein, im Gegenteil, der Mann wandte mir seinen Rücken zu und ging, fast die ganze Breite der Treppe einnehmend, vor mir hinunter.

Ich wagte nicht, ihn zu überholen, blieb aber doch ruhig und gelassen. Fast jedenfalls, denn ein wenig rüttelte es schon an meiner Fassung, daß er anstelle einer verwachsenen Frisur, einer grauen, grobporigen Halbglatze oder der durchaus erwartbaren Schuppenflechte (wie gesagt, ich war gewappnet) jene Dauerwelle trug, die Tony Marshall berühmt gemacht hat und heute überall, außer einem kleinen Reservat bei Aachen, grundsätzlich verboten ist. Sie wissen schon: kleine Dauerwellen-Löckchen, mühsam in Tiefschwarz gefärbt, die das letzte Restchen an Scheiße aus den Zügen eines Arschgesichts hervorholen.

Bis zum Erdgeschoß folgte ich dem Mann, überquerte dann mit ihm den Hinterhof, wo er, symbolisch gewissermaßen, nasal einen guten Eimer Schleim zog und ausspuckte. Doch das war nur die Ouvertüre seiner Neuköllner Oper. Denn jetzt holte er zu einem wirklich großen Ding aus. Er lehrte mich ein für allemal, daß ich für Neukölln nicht tauge, alle Wappnung hin oder her. Denn direkt vor dem Hauseingang, direkt bei der Straße, öffnete er seine Hose und pißte weltmännisch und vollverrüdet drauflos. Und zwar mit hartem und entschlossenem Strahl an den nächstbesten Baum am Gehsteigrand. Ich blieb stehen, fassungslos. Er, vom Gesicht her nicht einmal besonders unfreundlich, fing meinen Blick mit seinen Augen auf und spürte mein Entsetzen. Sah offenbar auch die Frage aller Friedens- und Artenforscher mein Hirn total einnehmen, die Frage: warum?

Daher lächelte er mir in Kumpelmanier zu und sagte, während er die letzten Tropfen Pisse verschleuderte: "Tja, ne, mein Rohr is' nämlich kaputt." Ich hoffe inständig, daß er von seiner Toilette sprach.

* Jörg Sundermeier