Tortilla Curtain und Quotierung

Zwischen Überausbeutung und kultureller Selbstethnisierung: Chicanos/as in den USA

Als Jesse Jackson am 9. Mai die drei US-Soldaten mit in den "freien Westen" nahm, die zuvor Kriegsgefangene der jugoslawischen Armee gewesen waren, jubelte in Los Angeles Vicky Gonzalez in eine CNN-Kamera. Im Community Center gratulierten ihr ihre Bekannten.

Auch in der Familie des Soldaten Ram'rez werden einige auf spanisch ihrer Freude über seine Freilassung Ausdruck verliehen haben. Für viele Jugendliche ist die Armee eine Alternative zur Arbeitslosigkeit in den USA, wenn sie aus einer der Minderheiten kommen, die bis 1996 durch affirmative action über ethnische Zuordnung offiziell gefördert wurden. Ram'rez und Gonzalez durften für die USA kämpfen, obwohl sie als Chicanos/as rassistisch benachteiligt werden. Sie dürfen auch die Grenze des Staates bewachen, der per Volksabstimmung die bevorzugte Einstellung von Angehörigen einer Minderheit in den öffentlichen Dienst abschaffte - 1996 in der Proposition 209.

In Tijuana, nur wenige Kilometer südlich vom kalifornischen San Diego, ist der sogenannte Tortilla Curtain im Stadtgebiet ein Eiserner Vorhang. 1998 wurde die endlos scheinende Metallmauer auf 50 Kilometer verlängert. An der 3 100 Kilometer langen Grenze durch die Gebirgswüste und am Rio Grande entlang soll auf US-Seite die Zahl der Grenzpolizisten von 2 700 (1997) auf 7 700 (2002) erhöht werden und die derzeit dort aktiven Armee-Einheiten ersetzen. Im Rahmen der Operation Gatekeeper hatte US-Präsident William Clinton US-SoldatInnen zur Kontrolle der Grenze eingesetzt.

Die stellten für die MigrantInnen nicht die einzigen Gefahr dar: Beim Versuch, in die USA zu gelangen, sind in den vergangenen zehn Jahren 3 200 Menschen ums Leben gekommen. Die meisten ertranken beim Durchqueren des Grenzflusses Rio Grande oder verdursteten in der Gebirgswüste. Seit Anfang 1994, als der Freihandelsvertrag Nafta zwischen Mexiko, den USA und Kanada in Kraft trat, ist die unerlaubte Arbeitsmigration noch gestiegen. 1998 versuchten zwischen einer und zwei Millionen Menschen, in die USA einzureisen. 1,2 Millionen wurden offiziell von den USA nach Mexiko abgeschoben.

Für den Kapital- und Warenverkehr ist die Grenze offen, für ArbeitsmigrantInnen aus Mexiko hingegen offiziell dicht. Sie können nur als Papierlose, als Inoffizielle einreisen. Davon profitieren die Agrarbetriebe, der Dienstleistungsbereich und die Fabriken in den angrenzenden US-Staaten, bei denen die 13 Millionen braceros aus Mexiko und Mittelamerika eine fest eingeplante Größe sind.

Die Bezeichnung braceros leitet sich von "brazo" ab - dem spanischen Wort für Arm; so werden Menschen auf ihre Handarbeitskraft reduziert. Als inoffizielle Arbeitskräfte rechtlos, sind sie leicht unter Druck zu setzen. In den sechziger Jahren organisierten sich die braceros in der antirassistischen, zweisprachigen Gewerkschaft United Farm Workers (UFW), der eine Organisierung der WanderarbeiterInnen gelang. In der UFW taten sich nicht nur MigrantInnen aus Mexiko, sondern auch von den Philippinen zusammen. Die ethnisierte Aufteilung in konkurrierende ArbeiterInnengruppen wurde so teilweise durchbrochen. Die auch gegen rassistische US-LandarbeiterInnen in den entscheidenden Phasen der Ernte durchgekämpften Streiks, die von der städtischen Linken mit Boykottkampagnen unterstützt wurden, schmälerten die Extraprofite der Agrarindustrie.

Die Chicano/as sind im segmentierten Arbeitsmarkt etwas bessergestellt als die Inoffiziellen. Aber obwohl ihre gewerkschaftliche Organisierung überdurchschnittlich hoch ist, gibt es auch in den Gewerkschaften offen rassistische Positionen und erst seit den neunziger Jahren Unterstützung im Kampf gegen rassistische Diskriminierung. Auch 1999 arbeiten eine halbe Million spanischsprechende LandarbeiterInnen für vier Dollar pro Stunde auf Kaliforniens Plantagen. Trotzdem verdienen sie in den USA an einem Tag mehr als in einem Monat in Mexiko. Die Dollars, die sie regelmäßig dorthin überweisen, sind fester Bestandteil der Überlebenswirtschaft der ärmsten sozialen Gruppen in Mexiko, insbesondere auf dem Land.

Die inoffizielle Migration aus Mexiko bildet eines der ärmsten Segmente des US-Arbeitsmarktes. 70 Prozent der beim letzten Programm Legalisierten und 90 Prozent der von den Einwanderungsbehörden jährlich Abgeschobenen kommen aus Mexiko. Neben den Chicanos/as, die rassistischer Diskriminierung unterliegen, aber zumindest US-StaatsbürgerInnen sind, gibt es ArbeitsmigrantInnen ohne Papiere und Flüchtlinge aus Lateinamerika und anderswo, die inoffiziell über die Grenze aus Mexiko in die USA kommen. Diese bekommen die miesesten Jobs und leben in ständiger Unsicherheit vor der Abschiebung.

Mit der Nafta nähern sich die Arbeitsbedingungen auf beiden Seiten der Grenze an: Unsichere Jobs, niedrige Löhne, erschwerte gewerkschaftliche Organisierung. Zugleich nimmt in Kalifornien die Feindseligkeit gegen EinwanderInnen zu: Per Volksentscheid wurde im November 1994 die Proposition 187 beschlossen, ein Gesetz, das allen Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis den Zugang zu Gesundheits- (bis auf medizinische Notfälle), Bildungs- und sonstigen Sozialleistungen verweigert. Auch verordnet es den im Bildungs- und Gesundheitsbereich Beschäftigten, alle "verdächtigen Fremden" zu melden. Nach der Annahme der Proposition 187 gab es die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten - unter mexikanischen Fahnen in Los Angeles. East L.A. wird als zweitgrößte mexikanische Stadt bezeichnet, Menschen mit mexikanischem Paß und Chicanos/as werden dabei in einen Topf geworfen.

Aber es gab nicht nur Demonstrationen. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung wurde die von der Dominanzgesellschaft geprägte rassistische Bezeichnung "Chicano" in eine aufwertende Selbstbezeichnung gewendet. Der Filmproduzent Jeff Penichet bemerkte dazu: "Chicano-Sein ist ein politisches Konzept; es ist die Suche nach unserer kulturellen Identität. Unser Kino versucht, die Geschichte des Volkes Chicano wiederzugewinnen." So ist der Boom des Cine Chicano darin begründet, daß es für klar abgegrenzte, kulturalistisch definierte Minderheiten einen Zugang zu Fördermitteln gibt.

Die Falle hierbei ist, daß erst die eindeutige Zuordnung die entsprechende Tür für eine Minderheiten-Quotierung öffnet, wie die Produzentin Nancy de los Santos feststellte: "Das Cine Chicano verdankt seine Existenz hauptsächlich dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, welches durch Gesetz dazu verpflichtet ist, Filme der ethnischen Minoritäten zu finanzieren." Kulturnationalistische Chicanos/as beziehen sich in ihrer Geschichte darauf, daß die spanischen Kolonialisten vor den britischen in den heutigen USA waren. Als Bezug auf präkolumbianische Geschichte spielt der mythische Herkunftsort der AztekInnen, Aztl‡n, eine wichtige Rolle.

Aztl‡n wurde in der aztekischen Mythologie nördlich von Zentralmexiko verortet, so daß es im Südwesten der USA gelegen haben könnte: Ein hervorragendes Argument für national begründete Gebietsansprüche, wie es exemplarisch der Chicano-Filmemacher Juan Uribe ausdrückt: "Für mich ist Chicano-Sein die Politik der Rückeroberung von Aztl‡n, der Territorien im Südwesten der USA, die früher den AztekInnen gehörten."

Diese Konstruktion von präkolumbianischer Geschichtstradition ist bis heute zentral für eine "Chicano/a-Kultur". Die Herleitung von Rechten aus angeblich geschichtlichen, nationalen und territorialen Ansprüchen ersetzt als Kulturalismus bei vielen Chicanos/as den Antirassismus.

Trotz aller vermarktbaren Folklore wird bei Plebisziten aber für eine Verschärfung der Politik gegen die Inoffiziellen gestimmt. Im Juni 1998 fand in Kalifornien eine Volksabstimmung statt, die Proposition 227, bei der sich ein Drittel der Chicanos/as einem Gesetzesvorschlag rechter Republikaner anschloß: Eine große Mehrheit der WählerInnen stimmte gegen zweisprachigen Unterricht an kalifornischen Schulen.

Vor 25 Jahren hatte die Bürgerrechtsbewegung durchgesetzt, daß Schulpflichtige primär in ihrer Erstsprache Lesen und Schreiben lernten und erst allmählich in englischsprachige Klassen eingegliedert wurden. Die neue Regelung legt fest, daß schulpflichtige MigrantInnen jetzt unabhängig vom Alter einen einjährigen Crash-Kurs in englischer Sprache durchlaufen sollen. Die Initiative dazu kam von Ron Unz aus dem Silicon Valley: "Viele Hispanics stimmten gegen den zweisprachigen Unterricht, weil sie wollen, daß ihre Kinder schneller Englisch lernen", die Sprache des sozialen Aufstiegs.

Der gelingt einigen trotz der andauernden rassistischen Stigmatisierung als Chicanos/as. So ist seit November 1998 die stellvertretende Gouverneurin von Kalifornien eine "Hispanic": Se-ora Cruz Bustamante wurde nach Umfragen von 84 Prozent der teilnehmenden Chicanos/as gewählt. Damit hat die Demokratische Partei der USA es erneut geschafft, die WählerInnengruppe der Chicanos/as für sich zu gewinnen. Da die Republikanische Partei in Wahlkämpfen ständig Stimmung gegen Minderheiten, zweisprachigen Unterricht usw. macht, brauchen die Demokraten auch nicht allzuviel zu tun, um als kleineres Übel dazustehen.