Über den Zweikampf

Vor 200 Jahren wurde Alexander Sergejewitsch Puschkin geboren. Einige Überlegungen zu seiner Novelle "Der Schuß".

Das Verstehen ist ein Treppenwitz. Sobald es sich erfüllt, ist das, was verstanden worden ist, vorüber und verloren. Die avancierte Literatur hat sich stets bemüht, diesen Zusammenhang zu erhellen. Aber sie kommt natürlich nicht gegen die Illusionen des Verstehens an, die sich in jeder Gesellschaftsformation - erst recht in der sogenannten Kommunikationsgesellschaft - erneuern.

Bemerkenswert ist, wie die Literatur sich der traditionellen Mittel bedient, um die Tradierung der Verstehensillusion zu hemmen. Wenn Alexander Puschkin in seinen "Erzählungen des verstorbenen Iwan Petrowitsch Bjelkin" auf kunstvolle Weise die eigene Autorschaft unkenntlich zu machen versucht, verwendet er eine seit der frühen Aufklärung bekannte und zu seiner Zeit längst zum Topos abgesunkene Konstruktion. "Travels Into Several Remote Nations of the World By Lemuel Gulliver", "MS. Found in a Bottle" - weder den Lesern Jonathan Swifts noch denen Edgar Allan Poes wird verborgen geblieben sein, wer der tatsächliche Urheber dieser Schriften war.

Und niemand wird Puschkin abgenommen haben, nicht er, sondern Iwan Bjelkin habe die genannten Erzählungen verfaßt und ihm, Puschkin - genauer: "A.P." -, komme lediglich das Verdienst zu, diese Papiere herauszugeben, die ansonsten vielleicht dazu verwendet worden wären, "im Winter die Fensterrahmen zu verkleben".

Doch es zeigt sich sogleich, daß dies Mittel kein blasser Schmuck, sondern konstitutiv für den Text ist. Denn die Distanz zwischen dem Herausgeber A.P. und dem, was er herausgibt, vergrößert sich, je weiter die Erzählung fortschreitet. Zunächst wird fingiert, Bjelkin erzähle gar nicht selbst, er habe nur die Erzählungen anderer aufgezeichnet. "Der Schuß" etwa, die erste Novelle aus der Bjelkin-Sammlung, stamme von einem "Oberstleutnant I.L.P.". Man ahnt, was folgt: Auch dieser Oberstleutnant erzählt nicht aus eigenem Erleben, er gibt weiter, was er von einem eigenartigen Mann gehört hat.

Dieser Mann nun - das gehört zu dem Prozeß der Distanzierung - ist vielleicht ein Landsmann, "doch klang sein Name ausländisch". Sylvio - "so will ich ihn nennen" - gehört nicht dem Regiment an, in dessen Lager die erste Hälfte der Novelle spielt, er bleibt schweigsam, widerspenstig, fremd.

Inzwischen ist die stete Distanzierung und Verfremdung an einem Punkt angelangt, an dem entweder eine Erklärung folgen muß oder die Personen, ohnehin schemenhaft, sich vollständig auflösen. Es trifft also ein Brief ein. Er ruft Sylvio zum zweiten Teil eines Duells, dessen erster - wie er endlich, um keine "ungerechte Ansicht" über sich selbst zurückzulassen, berichtet - vor Jahren stattgefunden hat. Sylvios Gegenüber war damals das Recht zum ersten Schuß zugefallen, er hatte Sylvios Mütze durchlöchert. "Nun lag sein Leben endlich in meiner Hand; gierig hing ich an seinem Gesicht, bestrebt, wenigstens einen Schatten von Unruhe darin zu erblickenÖ Aber er suchte, obwohl meine Pistole auf ihn gerichtet war, gleichmütig die reifsten Kirschen aus seiner Mütze und spuckte ruhig die Kerne aus, die bis zu mir rollten. Sein Gleichmut brachte mich nur noch mehr auf. Was nützt es, mußte ich denken, ihm jetzt das Leben zu nehmen, wenn ihm dieses überhaupt nichts bedeutet?" (Übers. v. Johannes von Guenther)

Der letzte Satz ist widersprüchlich. Denn daß dem andern sein Leben "nichts bedeutet", heißt hier doch, daß er vollkommen in ihm ruht, daß er allein auf sich und dieses Leben bezogen ist. Selbst daß er der kommenden Kugel Sylvios seine Kirschkerne entgegenspuckt, ist alles andere als Ironie oder Aggression, er bleibt ganz ruhig, ganz unbewegt. Sein Gesicht zeigt nicht "einen Schatten von Unruhe"; er erwartet nichts und gibt also keine Antwort. Ein Duell ist ein Gespräch, ein Gespräch ist ein Duell, doch dieser Schütze hier will weder reden noch zuhören. Also antwortet Sylvio auf diese Verweigerung seinerseits mit einer Verweigerung. Er spart sich die Kugel für eine spätere Begegnung auf.

An dieser Stelle wird die Erzählung unterbrochen. Der Erzähler wechselt die Seiten des Zweikampfs. Er entdeckt Jahre später im Salon eines Grafen eine "Schweizer Landschaft", ein Gemälde, "das von zwei Kugeln durchbohrt war, von denen die eine auf der andern saß". Der Graf berichtet, er sei der Kirschkern-Spucker gewesen. Mitten in des Grafen Flitterwochen sei Sylvio - der durch den Brief von der Heirat erfahren hatte - zurückgekehrt und habe das Duell zu Ende führen wollen; seine Pistole, habe Sylvio ihn höhnisch gewarnt, sei "nicht mit Kirschkernen geladen". Die beiden losen erneut um den ersten Schuß. Der Graf feuert abermals zuerst und trifft abermals daneben - mitten in den Ölschinken. Doch diesmal - die Gräfin betritt den Salon - ist er alles andere als gleichgültig, als Sylvio auf ihn zielt.

Sylvio verzichtet auf die Beendigung des Duells: "Ich bin befriedigt: sah ich doch deine Verwirrung und deine Zaghaftigkeit; ist es mir doch sogar gelungen, dich zu veranlassen, auf mich zu schießen. Das genügt mir." Er gibt im Gehen noch einen Schuß ab, und sein Geschoß trifft genau auf das des Grafen.

Geht es um den Gegensatz Kirschkern und Kugel, Spiel und Ernst? Es geht um das ernste Spiel der Bedeutungen, um leeres und - scheinbar - erfülltes Zeichen. Die Pistolenkugel des Verschmähten sitzt auf der des ihn Verschmähenden wie ein reduplizierter Signifikant am anderen. Es sieht so aus, als ob der Zufall, indem er wiederholt wurde, zu einer Bedeutung geworden wäre, weil ein Zeichen sich mit dem andern vollständig deckt. Und doch befindet sich zwischen dem ersten und dem zweiten Projektil, zwischen Frage und Antwort ein unüberbrückbarer zeitlicher und damit semantischer Abstand. Mag die Gesprächssituation auch beim zweiten Mal günstiger sein - beide willigen in die Spielregeln ein, beiden ist nun klar, was auf dem Spiel steht -, wird das Gespräch doch erneut abgebrochen. Das Duell ist zu Ende, erst dann setzt Sylvios Kugel den Schlußpunkt. Es geht also nicht bloß um eine Überkreuzung, sondern um eine Verfehlung, ein Sich-Verfehlen (und das bleibt das bestimmende Thema auch der weiteren Bjelkin-Novellen).

Sowenig der Autor mit sich selbst übereinstimmt, sowenig kommt hier Verstehen zu sich, es sei denn im Exterritorialen, in einer "Schweizer Landschaft". Sylvio genügt es, den Grafen verwirrt und zaghaft zu sehen, es genügt ihm, daß der andere geschossen, daß er ihm sein Gesicht zugewandt hat. Aber das ist alles, was dem Sprechenden bleibt, diese Aufmerksamkeit, Gerichtetheit; auf ein Verstehen im emphatischen Sinn dagegen ist nicht zu hoffen.

Nicht nur der kommunikative Austausch, auch der Vorgang des Verstehens selbst endet notwendigerweise entweder mit dem Absterben der Empfindungen, auf die es zielte, oder mit dem Nicht-Verstehen. Das liegt in der Logik der Sprache selbst. Werner Hamacher schreibt in der Einleitung zu seinem Buch "Entferntes Verstehen" (Ffm. 1998): "Versteht sich das Verstehen, so hat es schon die Erschütterung, das Schauern, Verwundern und Lauschen, von dem es ausgegangen ist, vergessen - und es versteht also nicht, weil es seine Herkunft nicht versteht. Bleibt es aber beim Staunen, so kommt es nicht zum Verstehen (...)."

Hamacher handelt hier allerdings nicht von einer Kommunikationssituation, sondern vom Verstehen als einem einsamen Akt. Was Puschkin uns zu sehen lehrt, ist, daß auch das Verstehen-im-Dialog einsam ist, ein einsamer Zweikampf, der, wenn er nicht die Körper abtötet, die Bedeutungen ins Nichts gehen läßt.

Ein ganz anderer Treppenwitz ist es, daß der vor 200 Jahren geborene Autor von "Der Schuß" 1837 an den Verletzungen starb, die ihm eine Duellkugel beigebracht hatte.