Unerfüllte Mission

Friedensdienst: Beim Festakt im Berliner Dom lobte der Bund der Vertriebenen die gute Zusammenarbeit mit der rot-grünen Regierung

Er ist schon ein pfundiger Bursche, der Otto Schily (SPD). Als "Weltbürger und Antroposoph" feierte ihn das Organ des Bundes der Vertriebenen (BdV), Deutscher Ostdienst. Das Blatt würdigte ihn als "konsequenten Verteidiger rechtsstaatlicher Prinzipien" und als einen, der dem BdV eine "faire partnerschaftliche Zusammenarbeit" angeboten habe.

Da schmerzte es nur ein wenig, daß der Kanzler am vergangenen Wochenende nicht selbst unter den Vertriebenen im Berliner Dom weilen konnte. Eigentlich wollte Gerhard Schröder die Ansprache anläßlich des Tages der deutschen Heimatvertriebenen, dem Festakt des BdV zum 50jährigen Bestehen der Bundesrepublik, halten. Doch der Kanzler mußte den Termin kurzfristig wegen der gleichzeitig stattfindenden deutsch-französischen Konsultationen in Toulouse absagen. Allerdings versicherte Schröder in einem Brief an die BdV-Präsidentin und Unionspolitikerin Erika Steinbach, daß die "Interessen der Vertriebenen für ihn und die gesamte Bundesregierung ein wichtiges Anliegen" seien.

Also überbrachte der Innenminister Schröders "Grüße und beste Wünsche" und versicherte den Anwesenden im vollbesetzten Saal, daß die Vertriebenen sich in "besonders verdienstvoller Weise" am Aufbau der Bundesrepublik und an der Errichtung einer "freiheitlichen Kultur" auf deutschem Boden beteiligt hätten. Ferner hätten sie in "erheblichem Maße" zur Einigung zwischen DDR und BRD beigetragen.

Nicht nur dafür waren ihm Zustimmung und Applaus gewiß. Auch sein Verweis auf "die Wahrheit" kam gut an. In Vertriebenenkreisen hält man ganz besonders auf jene Wahrheit - getreu dem Prinzip, was wir glauben, ist wahr. Obgleich Schily in seiner Festansprache darauf verwies, daß die Umsiedlung der Deutschen eine Konsequenz aus dem Nationalsozialismus gewesen sei, ist seine Interpretation der Wahrheit durchaus kompatibel mit der Variante des BdV. Denn auch für den deutschen Bundesinnenminister bedeutet "Mut zur klaren Sprache", daß man der "Wahrheit ins Gesicht sehen", sprich die "Opfer der Vertreibungsverbrechen" miteinbeziehen und dabei die Umsiedlung der Deutschen als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" darstellen muß.

Schily ist seit Jahren der erste sozialdemokratische Minister, der sich an einer hochoffiziellen Veranstaltung des BdV als Festredner beteiligt. Das freute auch BdV-Präsidentin Steinbach. Es sei besonders wichtig, sagte die Bundestagsabgeordnete, daß zu "dieser Gedenkveranstaltung politische Repräsentanten von Rang hier im Berliner Dom zu Gast sind und sich diesem Anliegen stellen".

Bereits am Freitag vergangener Woche hatte Steinbach in einem Interview mit der Düsseldorfer Tageszeitung Rheinische Post erklärt, warum der BdV so gut auf die rot-grüne Bundesregierung zu sprechen ist: "Ich versuche schlicht und einfach, die Zahl unserer Verbündeten zu vermehren. Es geht um ein Anliegen aller Deutschen. Deswegen muß es auch ein Anliegen aller Parteien sein. Je mehr Politiker vollmundig die Vokabel 'Menschenrechte' in den Mund nehmen, desto mehr müssen sie sich daran messen lassen, wie sie in der Realität mit eigenen Vertreibungsopfern umgehen."

Diesen Kampf für Menschenrechte, den auch die Bundesregierung stets im Munde führt, hat sich der BdV dieses Jahr zur Hauptaufgabe gemacht: "Menschenrechte sind unteilbar" heißt das Leitmotiv der Verbandsarbeit für das Jahr 1999.

Freilich verstehen sich die Vertriebenen in ihren Verbänden explizit als Angehörige von Menschenrechtsorganisationen. In der neuen Regierung und ihrer Ankündigung, einer verschärften Menschenrechtspolitik Geltung zu verschaffen, sehen sie den Türöffner dafür, ihren Ansprüchen zu weiterer internationaler Anerkennung zu verhelfen. Sollte deren Verständnis von Rechtsgleichheit erstmal etabliert sein, würden neben den Menschenrechten anderer auch und vor allem die der Deutschen durchgesetzt werden. Und das nicht mehr nur als reine Variante deutscher Außenpolitik, sondern als international anerkannter Standard für Vertriebene, von dem besonders die deutschen profitieren sollen. Die längst erfolgte Einbettung von Volksgruppenpolitik in die deutsche Menschenrechtspolitik läßt die Vertriebenen zu unübertroffenen Menschenrechtsaktivisten werden.

So formulierte der stellvertretende Bundessprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Wolfgang Thüne, bereits im Herbst des vergangenen Jahres, daß die Vertriebenenverbände für die "individuellen Menschenrechte" ebenso kämpfen würden wie für die "praktische Durchsetzung der Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts": "Die Menschenwürde ist unantastbar! Freiheit und Menschenwürde sind untrennbar miteinander verbunden. Vertreibung ist Freiheitsberaubung und die schlimmste Mißachtung der Menschenwürde." Daher habe auch jeder Vertriebene, so Thüne, das "Recht auf Rückkehr in seine angestammte Heimat und sein Eigentum". Kurz gefaßt: "Wir wünschen uns ein freies, geeintes Ostpreußen in einem freien, geeinten und grenzenlosen Europa." Und: "An diesem Friedensdienst werden wir als Menschenrechtsorganisation trotz aller Diskriminierungen unbeirrt festhalten. An der gehorsamen Verfolgung der Gebote Gottes kann uns niemand hindern."

So läßt sich ein Konsens herstellen, mit dem der BdV nicht nur mit den Sozialdemokraten bereitwillig gemeinsame Sache machen kann. Natürlich sind auch die Christdemokraten beim nationalen Kampfbündnis für das deutsche "Recht auf die Heimat" dabei. Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) etwa erklärte in seiner Rede im Berliner Dom, die "deutschen Vertriebenen haben ihre Mission keinesfalls erfüllt". Diepgen träumt "von einem Europa, in dem die Grenzen immer mehr ihren trennenden Charakter verlieren" und wünsche sich von Herzen, daß "Heimat nicht nur Erinnerung, sondern auch Zukunft" sein soll. Diese "Botschaft zur Jahrhundertwende", die Diepgen vorschwebt, träumten gemeinsam mit ihm die Menschenrechtsaktivisten des BdV beim abschließenden Ökumenischen Gedenkgottesdienst.