Schläger mit Regeln, entregelte Gewalt

Wie man aus vier Hooligans nützliche Dämonen und den Prozeß um den schwer verletzten Gendarmen Nivel zum Spektakel machte

"Eine Schande für Deutschland" hatte Kanzler Kohl Ende Juni 1998 ausgemacht. Die galt es auszurotten. Vorschläge: "Schlagstock, Schleier-Fahndung, Strafverschärfung" (Kanther), "Ausmerzen" (Kinkel), "Einschläfern" (Michael Schumacher). Schließlich war sich der Formel-1-Held nicht sicher, "ob man die überhaupt noch Menschen nennen darf".

"Die" sind deutsche Hools. Gut 600 waren zum Fußball-WM-Spiel Deutschland-Jugoslawien in Lens am 21. Juni 1998 angereist. Kaum einer bekam Karten fürs Spiel, jugoslawische Hools als Prügelpartner fehlten. Nach dem Spiel kam es zu Scharmützeln mit der Polizei, ein Kameramann wurde zusammengeschlagen, Flaschen und Stühle flogen. Die Police Nationale hatte die Situation unter Kontrolle, drängte die Masse zurück. Etwa 30 Hools trafen jedoch in einer Seitengasse unerwartet auf drei Polizisten. Minuten später lag der Gendarm Daniel Nivel am Boden, mit Gewehrkolben, Flaschen, Springerstiefeln halbtot geprügelt und getreten, Blut floß aus Augen, Nase, Ohren und Mund. Nivel überlebte sprachbehindert, das rechte Auge blind, der rechte Arm gelähmt.

Die "Hooligan-Schande" (Bild) ist bald herbeigeschrieben. Auch wenn in Lens ein Gewaltpotential vorhanden war, das noch Schlimmeres erwarten ließ. WM-Sicherheitschef René Querry: "Den ganzen Tag gab es sonst keinen ernsthaften Vorfall und kaum Beschädigungen." Vom wachsenden rechten Einfluß auf Fußball-Fans und der immer noch unzureichenden Ausstattung der Fan-Projekte war nicht die Rede. Hools gelten laut Kanther ohnehin als "kaum resozialisierbar". Die Hamburger Morgenpost sekundiert beflissen: "Hoffen wir nur, daß nicht wieder mal die Idee aufkommt, die Gesellschaft sei schuld."

Seit Ende April stehen vier mutmaßliche Täter in Essen vor Gericht. Die Anklage: Versuchter Mord, schwere Körperverletzung und schwerer Landesfriedensbruch. Der Journalistenandrang ist groß. Fast jeden Verhandlungstag dasselbe Bild: Handys lassen die Lautsprecheranlage knacken, die ersten Stuhlreihen sind mit weißen Kärtchen für WDR, RTL, AFP usw. reserviert. Berichtet wird allein, welcher Zeuge was wie schockiert sagte. Unterstellt wird, daß die Entschuldigungen der Angeklagten nur ein Trick waren. Ein Fotograf schimpft: "Die sitzen aber schlecht." Keiner will sich die Bestien entgehen lassen. Die vier blicken zur Seite oder zu Boden. So recht entsprechen sie nicht dem Bild vom primitiv-tierischen Unterschichten-Hool.

Die dunklen Haare dezent zurückgekämmt, das Oberlippenbärtchen fein ausrasiert, begann der 31jährige Frank Renger am ersten Prozeßtag zu weinen, als Richter Rudolf Esders ihn ansprach. "Es tut mir wirklich leid, sehr leid", heulte er. Der Gelsenkirchener ist verheiratet, verdiente an die 3 000 Mark monatlich in einer Molkerei und hat bisher nur drei Lappalien im Strafregister. Szenekundigen Beamten war er zwar aus dem Schalker Hool-Umfeld bekannt, er galt aber nicht als Schläger. Eher als Fan.

Am 21. Juni hat er laut Staatsanwaltschaft "aus Lust an der Mißhandlung brutal mit dem Schuhabsatz auf den Kopf" des am Boden liegenden Gendarmen Nivel getreten. Renger gesteht, zugetreten zu haben. Wohin, weiß er nicht mehr. Renger wollte angeblich erst vorbeilaufen, nur "war ich dann wie elektrisiert und habe auch zugetreten". Daß er mitprügelte, bestätigen auch Zeugen. Der 18jährige Walter Sauer und der 24jährige Berliner Raimund Emrich waren als Groundhopper vor Ort. Ihr Job: Fotos von Prügeleien schießen und dann an Hools verkaufen.

Auch der 28jährige André Zawacki kommt aus der Schalker Hooligan-Szene. Und auch er war vorher eher unauffällig: "Ob der da war oder nicht, war völlig egal", verriet ein Szenekundiger dem Spiegel. Zawacki hat laut Anklage mit einem Gewehraufsatz "mindestens dreimal wuchtig auf den Schädel" des am Boden liegenden Nivel eingeschlagen. Das bezeugen Sauer und Emrich.

"Typische Hooligans würden das nicht geplant tun", beharrt der Hannoveraner Sportsoziologe Gunter Pilz. Er plädiert für eine freundlich-differenzierte Betrachtung von Lens: "Eine Eskalation hängt vom Vorgehen der Polizei und der Gemengelage vor Ort ab. Den Hools schließen sich ja oft alle möglichen gewaltfaszinierten Menschen an. Irgendwann ist der Moment da, wo Gewalt entregelt ist." Die oft zitierten Hooligan-Regeln, zum Beispiel auf einen am Boden Liegenden nicht einzuschlagen, sind für Pilz durchaus Realität. Fanbetreuer Michael Gabriel über seine Erfahrungen bei Eintracht Frankfurt: "Wenn einer zu Boden ging, hat den manchmal sogar der Schläger rausgebracht." In Lens, wo keine gegnerischen Hools anwesend waren, habe das Auftreten der Polizei die Aggression noch angeheizt, erzählt ein szenenkundiger Beamter vor Gericht. Und schließlich war die Gewalt "entregelt".

"Ich bin mitgelaufen, weil alle mitgelaufen sind", versucht der 25jährige Tobias Reifschläger sich zu rechtfertigen. Mit seinem an den Seiten kurzgeschorenen Blondschopf stempelt man ihn zu gern zum Fascho. Er gehörte zu den Hamburger Ultras, hat eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann abgebrochen, hielt sich mit Gelegenheitsjob und etwas dümmlichem Waffenhandel über Wasser. 14 Uzi-MP hat er als Rekrut gestohlen und für jeweils 700 Mark verscherbelt. Nicht nur mitgelaufen ist er in Lens. Fotos zeigen, wie er auf Nivel eintritt. Brust und Kopf will er allerdings nicht getroffen haben. Ein Bild, das anderes zeigt, erklärt er so: "Da bin ich gerade über ihn rübergesprungen." Fotograf Emrich dazu: "Er hat Nivel regelrecht eingestampft."

Für die Rolle des kriminellen Mastermind hat man den "brutalsten Berliner" (B.Z.) auserkoren. Der 24jährige Christopher Rauch aus Erkner will nicht aussagen. Vor allem wegen Koksgeschäften soll er in U-Haft sitzen. Der gelernte Elektriker aus Thüringen kommt aus einer wohlhabenden Familie, seinem Vater gehört eine Firma für Schweißtechnik. Als gewaltbereiter Hool aus dem FC Berlin-Umfeld war Rauch bei der Polizei bekannt. In Lens soll er laut Anklage mit einem Holzschild Nivel "mit großer Wucht auf den Schädel" geschlagen haben. Groundhopper Sauer bestätigt das.

War die Attacke geplant? Der Essener Anwalt, der die Nebenklage der Nivels vertritt, gibt zu bedenken, daß Nivel der einzige Polizist mit Funkgerät vor Ort war, also hätte Verstärkung holen können. Ein Grund, den Gendarmen anzugreifen?

"Es kann immer sein, daß gar nichts passiert, daß sie sich untereinander prügeln oder daß es eskaliert", meint Sportsoziologe Pilz mit der präzisen Logik eines Sepp Herberger. Etwa 8 000 gewaltbereite Hools, knapp fünf Prozent der Fans also, vermutet die Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) beim LKA Düsseldorf in Deutschland. 1992 lag die Zahl noch bei 12 000.

Das spricht für die Arbeit der Fan-Projekte. 1992 etablierten sie im Rahmen des "nationalen Konzepts Sport und Sicherheit" in den Vereinen der 1. und 2. Liga. Sozialarbeiter organisieren jugendliche Fans, vertreten ihre Interessen gegenüber dem Verein. Die 27 Projekte mit ihren knapp 70 Mitarbeitern werden zu je einem Drittel von Land, Kommune und DFB finanziert. Fanbetreuer Michael Gabriel umreißt die Aufgabe: "Wir müssen in der Fan-Szene Strukturen stärken, die Spaß versprechen. Fanzines, Radiogruppen usw. Denn seit einigen Jahren dominiert eindeutig die rechte Kultur."

Die verschärfte in Lens die Stimmung. Die 20 000 deutschen Fans, von denen weniger als fünf Prozent der Hool-Szene zuzurechnen waren, unternahmen nichts gegen Sprechchöre wie "Wir sind wieder einmarschiert" und "Hier kommt der nationale Widerstand" oder stimmten in sie ein. Normalität in der Fan-Kurve: "Husch, husch, husch, Neger in den Busch".

Angesichts dieser bedrohlichen Einflußnahme klagt Gabriel über mangelnde Unterstützung für Fan-Projekte: "Organisierte Präventionsarbeit, wie wir sie verstehen, sehe ich in kaum einem Verein." Die vier Regionalligen sind gar nicht erst in das Finanzierungskonzept für Fan-Projekte einbezogen. Dies ist aber nötig. Die Hool-Szene verlagert sich in die unteren Ligen, wie die Stadion- und Straßenschlacht nach dem Himmelfahrts-Spiel Offenbacher Kicker gegen Waldhof Mannheim zeigen.

Aber es gibt ja so viel einfachere Lösungen für "kaum resozialisierbare Hooligans". Auch für die EM 2000 in Belgien und den Niederlanden: "Die einzige Sprache, die diese Bande versteht, ist der Knüppel." Das philosophierte nicht etwa ein Hool zusammen. So umriß der Sicherheitschef des belgischen Fußballverbandes, Roger de Bree, sein Sicherheitskonzept.