Ataris Rache

Runter von der Festplatte, zurück ins Leben. Im Computer-Horrorstreifen "Matrix" siegt der falsche Held mit Echtheitszertifikat

Nur einer tickt noch richtig im Computer-Schocker "Matrix": der Verräter Cypher (Joe Pantoliano). Er bringt seine Gefährten im Kampf gegen ein futuristisches Maschinensystem um. Im Tausch gegen eine hirnlose, aber sorgenfreie Existenz. Das Kalkül geht nicht auf: Unser Leinwand-Öcalan, dem Champagner wichtiger als die Wahrheit ist, wird bald schon selbst liquidiert. Die fundamentalistische Menschen-Guerilla hat im Krieg gegen die Maschinenwesen einen wichtigen Sieg errungen, Verbrechen lohnt sich nicht. Wer glaubte ernsthaft, die Menschheit würde nicht die Erde zurückerobern? Und Siege sehen wollen andere auch.

Obgleich der letzte Funke Verstand aus "Matrix" ausgetrieben wurde, strömte das amerikanische Filmpublikum in den Film - und das ist auch überhaupt kein Wunder. Geht es doch hier um die beliebten Computer-Hacker, jene bleichen Gesellen und Gesellinnen, die tagsüber in Stellwand-Büros dahindämmern und nachts zu Hause zwischen leeren Pizza-Kartons vom Lieferservice auf der Konsole klampfen. Dieses Schicksal teilen ja eine Menge Leute.

Doch der Held, ja, der Auserwählte - darunter machen wir es nicht - ist hier Keanu Reeves als Neo, und der sieht nun mal nicht nach PC-Trottel aus, sondern wie der junge Jesus persönlich, nur mit besserer Frisur. Und damit hält das kommerziell trächtige Heldentum endlich Einzug in die Computerfilmbranche, nachdem es bei den ersten Versuchen Schwierigkeiten beim Booten gab oder gleich Systemabstürze ("Johnny Mnemonic" etc.).

"Matrix", das Werk der Brüder Andy und Larry Wachowski - sie machten sich mit dem Thriller "Bound" einen Namen - bietet zwar nichts wirklich Neues, aber die Mischung macht's ja bekanntlich. Wie beim "Terminator" haben die Maschinen die Herrschaft übernommen und sich dabei einen höchst ungewöhnlichen Ausstieg aus der Solarenergie genehmigt: In einem langen Krieg suchten die Menschen ihnen mit Himmelsverdunklungsprogrammen den Saft abzudrehen. Ataris Urenkel sannen auf Rache und entwarfen eine perfekte Cyberwelt, die den Menschen eine normal funktionierende Gegenwart vorgaukelte.

In Wahrheit wurden die menschlichen Embryos längst gezüchtet und gepflückt und anschließend als Biomasse in der Legebatterie verstaut. Der Mensch mit seiner natürlichen Wärmeentwicklung wird zum Energielieferanten. "Und die Toten werden verflüssigt und an die Lebenden verfüttert!" klärt Morpheus (Laurence Fishburne), der Revolutionär und Cheftheoretiker der kleinen Widerstandsgruppe, die den nichtsahnenden Neo als ihren Retter auf den Schild hebt, auf. Ein wahrer Tiefpunkt auf der nach unten offenen Igitt-Skala der Filmgeschichte.

Das Biostromkonzept funktioniert heute noch. Die Matrix könne man nicht erklären, heißt es allüberall in dieser Truman-Show für Eltern, die wissen wollen, warum einige ihrer Kinder der Tote Armee Fraktion beitreten, und da ist man auch schon beim nächsten Punkt, der diesem Film ein gewisses Identifikationspotential beschert: Haben Sie schon mal versucht, einem Computerfreak einen brauchbaren Satz zu entlocken, über das, was er gerade an seinem Rechner macht?

Eben, geht nicht. Dabei ist die Matrix einfach jenes Illusionsprojekt, mit dem die Maschine die Wirklichkeit in den Köpfen konstruiert. Während lebendige Leichname zu Tausenden in der künstlichen Gebärmutter dahinschlummern, werden Erlebnisse wie Arbeit, Liebe oder Urlaub über ISDN ins Oberstübchen geliefert. Und das schon seit 200 Jahren. "Das erste Programm war das Paradies, aber damit wurden die Menschen einfach nicht glücklich und brachten sich reihenweise um", erklärt ein Maschinenmensch dem staunenden Freiheitskämpfer Neo. "Also entwarfen wir ein weiteres, in dem es auch Unglück gibt." Seitdem läuft der Laden. Das Regiment ist unerbittlich, "aber", so gibt der synthetische Agent den humanoiden Viren zu bedenken, "warum habt ihr uns denn erfunden, wenn wir euch das Leben nicht abnehmen sollten?"

Die "echte" Welt, die sich dem Helden nach Einnahme einer Realitätspille zeigt, ist in schrecklichem Zustand: Die Gebäude im Eimer, der Strom abgestellt. Man durchquert in U-Booten brackige Kanäle und wird von maschinellen Killern gejagt.

Was aber ist echt, befinden wir uns in diesem Universum oder in der Parallelwelt? Eine Fragestellung, die sich irgendwo zwischen Descartes ("Ich denke, also bin ich") und Leibnizscher Monadenlehre ("ja, aber ohne Fenster") signifikantenschwängern läßt: Das Hirn als Todeszelle, in der man sitzt, das Selbst als Umkehrung der Aufklärung: "Wer den Trieb verleugnet, verleugnet, was ihn zum Menschen macht", sagt Morpheus.

Das Computersystem ersetzt das Gesellschaftssystem, mit K.I. verbindet man eher Künstliche Intelligenz als Kommunistische Internablabla, und PC hat mittlerweile auch eine schöne Doppelbedeutung aus den Bereichen Technik und Moral. Mit jedem tiefgreifenden Evolutionsschritt werden die Mythen der menschlichen Entwicklungsgeschichte noch einmal neu erzählt. Vom Subjekt bleibt in der Matrix und dem gleichnamigen Film "das Restselbstbild, die digitale Projektion des eigenen Selbst" (Morpheus).

Und natürlich in Hollywood, wo noch jeder Newcomer die richtigen Mittel für seinen Einstieg fand - auch wenn Bill Clinton dem Spaß einen Riegel vorzuschieben gedenkt: Gewaltfilme will man sich zukünftig etwas genauer ansehen, sollen doch die Killer-Kids von Littleton vor ihrem Feldzug ins Gymnasium auch Kinobesucher gewesen sein. Wie man also irdische Dinge löst, zeigt "Matrix" gewohnt genau und tricky: mit Pistolen und etwas lahmarschigem Kung-Fu. Jackie Chan läuft einfach besser über die Decke, und John Woo ist immer noch ein besserer, weil katholischer Ballermann als die Brüder Wachowski.

Wenn es schon mit dem Zitate-Pop nicht recht klappen will und der Laberanteil zunimmt, weil diese Zukunftsgeschichten, die in der Gegenwart spielen, so verflucht schwer erklärbar sind - dann gibt es glücklicherweise immer noch den Zeitpunkt, an dem sich der schöne Held alter Theatertraditionen erinnert, wo ihm der deus ex machina zu Hilfe kommt: die Maschinenkanone. Die knallt alles weg, ist aber von einer Person gerade noch zu bedienen.

Es steht außer Frage, daß die Helden von "Matrix" gegen das verbrecherische Maschinensystem siegen werden. Ist das aber auch erstrebenswert? Oder ist nicht doch Cyphers Traum von heiterer läppischer Verblödung vernünftiger? Nein, das ist nicht verhandelbar, es gewinnt die Wahrheit, und das ist der Sieg der Moral über die Vernunft und funktioniert als Globalisierung von Ideologie.

Am Ende wird der erwählte Neo, der die Natur- und PC-Gesetze überwindet, erklären, daß alle Regeln ausgesetzt sind. Ironischerweise muß er zum Übermenschen mutieren, um den Kampf der Menschheit zu gewinnen. Für Individuen kein Platz und auch nicht für Champagnergelüste. "Ich zeige euch eine Welt ohne Gesetze." Das klingt weniger nach Happy-End denn nach massiver Erstschlagsdrohung, bevor uns Marilyn Manson mit seinem Asskick-Sound aus dem Kino befördert. Neben den Gewaltvideos wurde Manson ja für das Schüler-Massakrieren verantwortlich gemacht. Und vielleicht hätte die Nato Belgrad besser mit diesen Bildern bombardiert, dann hätte es mit dem Imperialismus auch geklappt. Will sagen: Der Handlung können wir zwar nicht immer folgen, aber das ist im richtigen Leben ja auch so. Aber was ist das überhaupt?

Der Held des Kinos am Ende dieses Jahrhunderts? Der moralische, maschinenstürmende Mensch, der sich Apparate schafft, um sich selbst und seine Schöpfungen zu bannen? Faszinierend ist eben die Angst, und cinematographisch liegt das ganz auf Traditionslinie: Schon zu Beginn der Filmgeschichte lehrten die Bildproduzenten das Publikum mit einer Maschine, die in die Kamera rast, das Fürchten: mit einer Eisenbahn. Man sieht, auch der Erste Weltkrieg hatte schon seinen Gewaltstreifen.

"Matrix". USA 1999. R: Andy & Larry Wachowski, D: Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss, Hugo Weaving, Laurence Fishburne, Marcus Chong, Joe Pantoliano u.a. Start: 17. Juni