Normal Talking

Eine neue Untersuchung belegt, was wir immer schon wußten: Talkshows gefährden weder Leib noch Seele, sondern halten sie zusammen

Talkshows sind ein Umschlagplatz für soziale, familiäre, sexuelle oder berufliche Probleme; wer einen interessanten Fall anbieten kann, bekommt die Rolle. Aber auch diejenigen Zuschauer, die prinzipiell nicht beabsichtigen, das eigene Schicksal auf die Bühne zu tragen, sind Akteure derselben Inszenierung - ob als Studiopublikum, das sich mit Statements in die Gespräche auf dem Podium einmischt, applaudiert, johlt und pöbelt, oder als Fernsehzuschauer, der sich telefonisch zuschaltet. Das ehemals vage Versprechen des Fernsehens, den Zuschauer zum Star zu machen, wird in Talkshows täglich eingelöst.

Als die Publikums-Talkshow vor rund zehn Jahren im deutschen Fernsehen eingeführt wurde, antizipierte das Format eine Entwicklung, die inzwischen auch andere TV-Genres, z.B. die zur Doku-Soap gewandelte Serie, betrifft: Der Abstand zwischen Akteuren und Zuschauern ist im Schwinden begriffen. Der Zuschauer von heute ist immer der Akteur von morgen, und umgekehrt. Wenn am Ende jeder Talkrunde das erregte Publikum zum Casting für die nächste Show gebeten wird, verwischen sich die Unterschiede zwischen den Rollen. Hier der Macher, dort der Zuschauer, das gilt nicht mehr.

Mit den Shows ist auch der Vulgärsexismus in die Öffentlichkeit zurückgekehrt. Obgleich aufwendig in Szene gesetzt, kann er seine Herkunft aus den Eckkneipen nur schlecht verbergen. Einer Sprachkritik, die gewohnt ist, sich um versteckten Sexismus zu kümmern, fehlen bei Sendungen wie "Lesbe, du hast bloß keinen abgekriegt" (Sat.1, "Andreas Türck") schlichtweg die Worte; der Stammtisch war schon immer der blinde Fleck von PC-Politik.

Ohnehin ist die Kritik an der Talkshow das Monopol einer eher wertkonservativen Fraktion. Prinzipiell mißtrauisch gegen die Öffentlichmachung des Privaten, entzündete sich eine an Jugendschutz und family values orientierte Kritik vor allem an der schamfreien Rede über "abartigen" Sex und der Repräsentation von Minderheiten. Obgleich die Talkshow längst ein Ort ist, an dem die Dominanzkultur triumphiert, gilt sie ihren Gegnern noch immer als das Paradies der Perversionen.

Mit einer Fragestellung, die noch aus dem Steinzeitalter des Mediums stammt, hat sich jetzt eine Studie der Zukunft des Fernsehens zu nähern versucht: Verderben Talkshows ihr Publikum, vor allem das jugendliche, und zwar insbesondere dann, wenn es um Sex geht? Die von den Medienanstalten Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Untersuchung zur Talkshow-Rezeption der 12- bis 17-jährigen kommt - wie alle bisherigen Untersuchungen zur Medienwirkung - zu dem Schluß, daß der (jugendliche) Zuschauer durchaus in der Lage ist, die Fernsehrealität als etwas Gemachtes zu durchschauen, sie zu decodieren, zu interpretieren und mit ihr umzugehen. Die Rezeption des Fernsehens beruht, wie auch die Lektüre von Texten, auf einer Aneignungsleistung, die um so komplexer ausfällt, je höher der Bildungsgrad des Zuschauers ist.

Auch die Behauptung vor allem bayerischer Politiker, auf deren Betreiben hin die Untersuchung durchgeführt wurde, pubertierende Fernsehzuschauer könnten durch die sog. Sex-Themen in ihrer Entwicklung gestört werden, ließ sich nicht belegen. Jugendliche präferieren andere Talk-Sujets; vor allem die Jüngeren haben ein eher geringes Interesse und schalten ab, wenn sich die Gespräche ausschließlich um sexuelle Inhalte drehen. Fast ist man ein bißchen enttäuscht, jeden Tag derselbe Zirkus, aber das beteiligte Personal soll hochgradig rational handeln?

Daß die Studie keine neuen Antworten zum Gebrauch eines sich rasch wandelnden Genres geben kann, dürfte auch damit zu tun haben, daß sie gar nicht erst danach gefragt hat. Keine Beachtung findet die Tatsache, daß sich die Frontstellung zwischen Produzenten und Konsumenten allmählich zugunsten einer Komplizenschaft zwischen den Beteiligten aufgelöst hat, innerhalb derer der Konsument zum Co-Produzenten von Unterhaltung wird.

Mit der schrittweisen Eroberung der Studios durch das Publikum haben sich Konstellationen ergeben, die das ohnehin nur begrenzt taugliche Rezipienten-Modell nicht erfassen kann. Wenn sich ein jugendlicher Talkshowgast z.B. als Macker inszeniert und verkündet, er finde "Lesben zum Kotzen", wird offenkundig, daß eine Medienkritik, die stillschweigend an der Annahme festhält, es gelte, die Mehrheit der Fernsehzuschauer vor der Minderheit der Fernsehmacher zu bewahren, die Entwicklungen innerhalb des Genres ignoriert.

In der Talkshow hat eine Art Paradigmenwechsel stattgefunden, der insbesondere anhand des veränderten Modus, in dem die umstrittenen Sex-Themen verhandelt werden, ablesbar wird: Auch wenn die Erotik-Themen niemals so präsentiert waren, wie die Talkshow-Gegner dies glauben machen wollten, trug der Bruch mit sexuellen Tabus entscheidend zur Imagebildung des Formats bei; das öffentliche Coming-out von Lederschwulen, Dominas und Transsexuellen erregte eine Aufmerksamkeit, die mit Arbeitslosen, Veganern, Alkoholikern und Scheidungsopfern allein nicht zu haben war. Indem sie den Außenseiter als bizarre Figur inszenierte, schuf sich die Talkshow das Image des Sensationellen und Spektakulären.

Als Glücksfall für die Talkshow erwies sich der Sadomasochist, der Authentizität und Inszenierung geradzu idealtypisch repräsentierte, wenn er bekannte, "naturveranlagt" zu sein, zugleich aber beteuerte, es handele sich schließlich immer nur um ein Spiel.

Durchaus in der Annahme, die Talkshow sei ein geeignetes Forum der Repräsentation und Emanzipation, gingen Schwule, Lesben, Huren und Sadomasochisten in die Sendungen und gehörten zu den Gästen der ersten Stunde. Das Interesse, eine möglichst breite Öffentlichkeit herzustellen, sowie die Absicht, Tabus zu brechen, teilten schwul-lesbische Aktivisten, Huren-Initiativen und SM-Zirkel mit den Sendern. Als z.B. die ersten Hydra-Vertreterinnen in den Talkshows auftauchten, war es noch undenkbar, daß irgendjemand aus dem Publikum oder der Gesprächsrunde heraus die Frauen als "Schlampen" beschimpft hätte.

Es wäre ein wenig einfach zu behaupten, eine irgendwie progressive Minderheit sei von einer reaktionären Mehrheit verdrängt worden, und dies sei Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz. Vielmehr entdeckte die Talkshow die Spießigkeit des typischen Minderheitenvertreters und machte sich diesen Umstand für ihr Projekt der Marginalisierung von Mehrheiten zunutze. Denn der Repräsentant einer emanzipatorischen Sexualpolitik konnte z.B. zugleich ein Fürsprecher restriktiver Ausländergesetze sein, der Lederschwule ein Frauenhasser, die Sadomasochistin Anhängerin der Todesstrafe.

Erinnerte die relativ geschützte Gesprächssituation - ein Grüppchen aus Betroffenen, Ex-Betroffenen, Angehörigen und jemandem, der gerade ein Buch zum Thema geschrieben hat - anfangs an die einer Selbsthilfegruppe, gleicht die heutige konfrontative Dramaturgie der einer Gerichtsverhandlung. Hier folgt auf jedes schwule Coming-out mindestens ein homophobes Bekenntnis; in etablierten Talkshows wie "Hans Meiser" ist Hate-speech der kalkulierte Exzeß, in Nischen-Sendungen wie der "Hate-Show" des Berliner Senders TVB gehört es zum üblichen Programm.

Express yourself, gesundes Volksempfinden: Weil ihre Dramaturgie auf dieselben Stereotypen, Werturteilen und Identitätskonstrukte angewiesen ist, auf die sich die Institutionen Ehe und Familie stützen, und die Talkshow nicht der subversive Ort ist, diese Strukturen in Frage zu stellen, wird sie die Normalität zwar immer aufs häßlichste widerspiegeln, sie aber niemals potentiell gefährden. Talkshows machen insofern auch nicht krank.