Amnestie in Algerien

An die Arbeit

Algerien ist dabei, in eine neue Periode seiner konfliktreichen jüngeren Geschichte einzutreten. Der vom algerischen Ministerrat angenommene Entwurf für ein Amnestiegesetz sieht Straffreiheit für die Angehörigen islamistischer Terrorgruppen vor. Ausgenommen sind jene, die Sprengstoffanschläge auf öffentliche Plätze, "kollektive Massaker", Morde oder Vergewaltigungen begangen haben.

Doch gibt es keine Ausnahme ohne Ausnahme: Nicht verfolgt wird, wer einer Gruppe angehört, die - so der Gesetzentwurf - von den Behörden "zugelassen wurde, um im Rahmen des Staates an der Bekämpfung des Terrrorismus teilzunehmen". Genau dies aber scheint zwischen dem Staat und der AIS, dem bewaffneten Arm der Fundamentalistenpartei FIS, vereinbart worden zu sein.

Das Ganze nennt sich Projekt der "nationalen Aussöhnung" und soll, wie Präsident Bouteflika am vorletzten Wochenende ankündigte, durch ein Referendum abgesichert werden. Sofern das Plebiszit in ähnlich fairer und demokratischer Form verlaufen wird wie die jüngste Präsidentschaftswahl, kennt man das Ergebnis freilich schon im voraus.

Oberflächlich betrachtet, könnte man die Offerten des Staatsapparats als einen Beitrag zum Abbau des enormen Gewaltpotentials in Algerien begrüßen. Viele der Angehörigen der fundamentalistischen Terrorgruppen sind junge Männer oder Jugendliche aus den Siedlungen der Landflüchtlinge und der Banlieue von Algier. Die meisten wurden geprägt durch Elend und autoritär-patriarchale Familienstrukturen. Eine Mischung aus Mangel an sozialen Perspektiven und fehlenden alternativen Lösungansätzen ließ sie in die Reihen der "Gotteskrieger" übergehen.

Manche der Desperados Allahs ließen sich möglicherweise um so leichter von der reaktionären Utopie des Islamismus - die den "wahren Söhnen" Allahs Rettung verspricht, wenn die Ungläubigen und die "Verräter an ihrer Identität" bezahlen müssen - abbringen. Denn diese Phrasen haben sich schon längst als blutige Illusionen erwiesen.

Begleitet von sozial-psychologischer Behandlung, ließen sich manche der jungen "Gotteskrieger" langfristig wohl in die Gesellschaft eingliedern - wenn diese ihnen etwas zu bieten hätte. Doch darum geht es in den Plänen Bouteflikas nicht. Diese setzen nicht auf eine individuelle Eingliederung jener, die ihre schwarze Utopie aufgegeben haben, sondern auf organisierte und strukturierte Gruppen, deren Disziplinierungsmacht dem Staat nützlich sein soll. Vieles spricht dafür, daß die jüngsten Schritte von Präsident Bouteflika mit den Spitzen des FIS und seines bewaffneten Arms bis ins Detail ausgehandelt wurden.

Gleichzeitig geht die Wirtschaftspolitik weiter, die vor dem Hintergrund des Scheiterns eines staatssozialistischen Entwicklungsmodells in Algerien die Staatssektoren auflöst. Auf diesem Weg wird den Angehörigen der alten Nomenklatura die Bereicherung an den privatisierten Filetstücken gestattet. Die politische Elite sucht indes eine "normale" Marktökonomie auf den Ruinen der Staatswirtschaft zu begründen.

Doch da die ursprüngliche Akkumulation bei Null einsetzt (die bisherige Ökonomie beruhte im wesentlichen auf dem Verkauf von Erdöl und der daraus abgeschöpften Ölrente), bedeutet dies, den größten Teil der Bevölkerung der Not zu überlassen. Um die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Politik auszuhalten, glaubt die alte Nomenklatura, ihre Machtbasis um einen (wachsenden) Teil der Islamisten erweitern zu müssen. Im Gegensatz zu den Eliten verfügen die Islamisten über ein kollektives gesellschaftliches Projekt (totalitärer Natur), von dem man sich verspricht, die Bevölkerung "an die Arbeit zu bringen".

Unter diesen Voraussetzungen verspricht die Amnestie weniger die Eingliederung der Islamisten - in eine Gesellschaft, die ihnen weiterhin nur soziales Elend zu bieten hat und in der ihre "Werte" weithin anerkannt sind, da die bestehende Familiengesetzgebung bereits von fundamentalistischen Ideen bestimmt ist. Vielmehr droht sie erneut, aus den Fundamentalisten (als Kollektiv) einen Machtfaktor zu machen, der das Kräfteverhältnis fortschreitend zu seinen Gunsten verschiebt.