Letzter Bundes-Tag in Bonn

Während alle Abschied nahmen, war Ivo Bozic Zigaretten holen. Ein letzter Spaziergang durchs Regierungsviertel
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Jürgen Trittin steht am kleinen Bistrotischchen an der Frittenbude vorm Langen Eugen. Ganz allein. Und dabei ist es zehn vor eins; gleich beginnt im Plenarsaal die Vereidigung des neuen Bundespräsidenten. Trittin hat sich schick zurechtgemacht. Steht ihm. Paßt aber eigentlich nicht zu dieser Imbißbude.

In diesem Fall ist das aber etwas anderes. Denn dies ist die einzige Outdoor-Imbißgelegenheit im Regierungsviertel. Hier, direkt am Rhein, 100 Meter hinter dem Bürohochhaus, das man den Langen Eugen nennt, trifft man sie alle: Abgeordnete, Mitarbeiter, Chauffeure, Touristen, Spaziergänger. Ich gehe am Umweltminister vorbei. Er tut mir etwas leid, so einsam wie er da so steht: "Ungeduscht, geduzt und ausgebuht", fällt mir dabei ein. Er schaut auf mein T-Shirt: roter Stern mit grünem Cannabis-Blatt, ich schaue auf seinen schicken Anzug. Tja, times they are a-changing, denke ich. Was er denkt, weiß ich nicht. Egal.

Was mache ich eigentlich hier? Zigaretten. Kollege Schmidt wollte Zigaretten haben und ich mal eben an die frische Luft. Es ist der Tag der letzten Bundestagsdebatte in Bonn. Alles voller Polizisten rund um den Plenarsaal, Touristen, Journalisten und Staatskarossen, Diplomatenautos, fette, schwarze Dinger, um die herum sich die Fahrer langweilen. Vor dem Bundestagsgebäude ist ein unglaublicher Trubel. Sonst geht es da eher beschaulich zu. Irgendwann, am Anfang der Republik, sollen hier noch Schafe gegrast haben. Dort auf der Wiese hat der WDR jetzt ein Sendezentrum aufgebaut. Gaffer stehen Spalier, um zu sehen, wer aus welchem Schlitten aussteigt. Hey, Leute, geht weiter, Michael Jackson kommt heute nicht mehr! Kameraleute halten ihr Objektiv auf alles, was sich regt. Da hinten huscht Kollege Sedlmayr vorbei. Im schwarzen Jackett, na so was. Für welches Blättchen der hier wohl heute unterwegs ist?

Noch drei Minuten bis 13 Uhr. Aus dem Ausgang IV des Plenargebäudes kommt mir Theo Waigel entgegen - auf dem Weg zum Langen Eugen. Mann, ist der klein. Sein Mitarbeiter oder wer immer das neben ihm ist, trägt einen Stoffbeutel. Ossi? Aber wichtiger ist die Frage, warum verläßt er jetzt den Saal, wo es doch nun gleich rund geht mit der Feierstunde. Bruder Johannes krönen. Na, ich glaube, die haben sich noch nie gemocht. Da hinten, gegenüber vom Bundesrat, ist der Kiosk. Zigaretten! Aber nein, ein Stau! Ein Polizist im kurzärmligen Hemd holt sich gerade zwei Bananen, und ein Kamerateam filmt das. Wer war wohl eher da? Der Bulle oder die Fernsehleute? Auf jeden Fall dauert mir das hier zu lange. Ich schwitze. Es ist schwül. Da ist schon wieder Kollege Sedlmayr. Er grüßt nur kurz und geht im Stechschritt weiter. Will wohl nicht mit mir gesehen werden heute. Mein T-Shirt? Schweißgeruch?

Ich gehe ins Plenargebäude. In der Lobby tummeln sich Journalisten vor den Glastüren des Saales. Die Politiker sind schon drinnen. Gerade eröffnet Bärchen Thierse die Feierstunde. Henning Scherf drängelt sich an mir vorbei, hat sich verspätet. Is' ja gut! Nur nicht schubsen! Als wenn's da etwas zu verpassen gäbe. Rau! Der geht mir schon seit frühester Kindheit auf die Nerven. Seit ich denken kann, labert der, wo ich geh' und steh'. Schrecklich. Wie Phil Collins. Der kommt auch aus jedem Lautsprecher, im Kaufhaus, beim Frisör ... Mal ehrlich, gegen Rau war Roman Herzog doch ein angenehmer Zeitgenosse. Und das, obwohl der Bayer ist! Hält gerade eine lustige Abschiedsrede. Ich meine, was kann man von einem Bundespräsidenten mehr verlangen, als daß er dir nicht auf die Nerven geht?! Herzog ist mir nicht groß auf die Nerven gegangen, Rau ist die personifizierte Nervensäge.

Ein Kameramann vom Privatfernsehen schubst mich unsanft zur Seite: "Entschuldigung, kann ich mal?" Klar kann er. Irgendwie ein ganz schönes Getummel hier, und doch ist das ein öder Ort. Keine Musik, keine Drogen. Ich hau ab. Schmidt wartet auf seine Kippen. Auch heute Vormittag war hier schon nichts los. Da tagte das Parlament zum letzten Mal. Thema der Debatte: "50 Jahre Demokratie - Dank an Bonn". Das sagt ja wohl alles! Kohl hat geredet. 50 Minuten! Die ersten zehn Minuten fand ich das ja ganz nett. Kohl ist echt ein Schnuffi im Vergleich zu Schröder. Spätestens jetzt wird klar: Wir sind vom Regen in die Traufe gekommen. Nach einer Viertelstunde werde ich jedoch nervös. Déjˆ-vus am laufenden Band. Beginnt jetzt alles wieder von vorne? Werden wir den Kohl möglicherweise nie wieder los? Godzillas Rückkehr? Jurassic Park II?

Aber irgendwann geht es doch vorbei. Standing Ovations für den Saurier. Ohne mich. Plötzlich redet Antje Vollmer. Ach, du Schreck. Die hatte ich ganz vergessen. Noch so'n Dino. Was sagt die da? Die 50 Jahre BRD - also "BRD" sagt sie natürlich nicht - seien eine "atemberaubende Erfolgs- und Glücksgeschichte" gewesen. Antje vom Mars. Mann, Mann, Mann. Aber es geht noch weiter! Mit ihrer Schluchzstimme dankt sie dem Dicken: Kohls Rede sei ein "Manifest" gewesen und er selbst die Verkörperung der "Bonner Republik". Zu den großen Momenten der deutschen Geschichte habe gehört, wie Kohl am Tag nach dem Mauerfall in Berlin "tapfer" die Nationalhymne gegen das Pfeifkonzert gesungen habe. Zwar sei die Tonlage nicht ganz richtig gewesen, "aber die Haltung stimmte". Antje, Antje, Antje ... Es gibt Leute, da denkt man, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Der Punkt war bei Antje Vollmer vor ungefähr fünfzehn Jahren erreicht. Seitdem widerlegt sie permanent diese These. War wohl mehr eine laue Hoffnung. Ab nach Schlesien, Baby!

So. Wo war ich? Ach ja, Zigaretten brauch' ich noch. Weit und breit kein Automat. Wird schon einer kommen unterwegs. Am Kanzleramt vorbei. Wie jeden Tag filmen Journalisten die Moore-Plastik im Garten. Übrigens: Wer als FU-Student die Berliner Rostlaube kennt, kann sich ein ziemlich genaues Bild vom Bonner Bundeskanzleramt machen. Siebziger Jahre-Ästhetik. Schön ist das nicht. Aber beliebtes Motiv fürs Fernsehen. Ich geh durch den Löwengang zwischen Kanzleramt und Bundespresseamt. Links und rechts ein zwei Meter hoher Zaun. Wenn auf dem Rasen des Bundespresseamtes nicht immer so viele unschuldige Kaninchen herumhoppeln würden, könnte man echt denken, hier geht's ins Collosseum. Petra Pau kommt mir entgegen. "Spät dran, was?" So. Genug Frischluft. Zurück zu Herrn Schmidt. Achgott, die Fluppen. Da muß ich wohl noch mal eben zum Stüssgen. Das ist der Supermarkt hier. Schmidt braucht Zigaretten, ich brauche Buttermilch. Ich schwitze. Drinnen ist es schön kühl.

An der Obstwaage steht eine Frau mit ein paar Bananen in der Hand und starrt auf die Tasten. Ich starre auf die Frau. Holla! "Die Eins ist es", bin ich behilflich. "Äh, nein, ich suche die Weintrauben." Weintrauben? Bin ich blind. Das sind doch eindeutig Bananen. "Wieso Weintrauben?" "Ich wollte nur mal gucken, was die kosten." Sie tippt irgendeine Nummer. Es erscheint ein Preis auf dem Display. "Ich wollte ja nur helfen", stottere ich. Die junge Dame verwirrt mich. Kein Wunder. Aber sie scheint auch verwirrt. "Ach, äh, ich dachte, Sie wollten, daß ich Sie bediene." Mein Gott, was redet sie? "Um Gottes willen", sage ich. "Soweit kommt es noch!"

Kommt es natürlich nicht. Obwohl das natürlich eine schöne Vorstellung wäre. Ich könnte mir von ihr ja mal etwas über die Anbaugebiete dieser Weintrauben erzählen lassen. Aber irgendwie ist mir das hier zu kompliziert. Ich wollte doch Buttermilch holen. Hier! 69 Pfennig. Das ist o.k. An der Kasse drehe ich mich um. Wo ist denn die Hübsche? Irgendwo zwischen den Regalen abgetaucht. Na ja, so ist das Leben, Schmidt wartet. Shit! Die Zigaretten! Noch mal zurück. Jetzt aber.

Ich kehre von meinem kleinen Ausflug leicht verwirrt zurück ins Büro zum Kollegen Schmidt. Der freut sich über die Kippen. Ich schalte den Fernseher ein. Rau redet. Natürlich. Muß ja. Ich versteh' immer nur "Toleranz", "Freiheit", "Gerechtigkeit", "Solidarität". Ist ja gut, Gandhi! "Ich will zuhören, damit niemand ungehört bleibt", predigt er jetzt. Bitte schön. Soll er. Zuhören und Maul halten - so könnte es klappen. Ich will da jedenfalls nicht mehr zuhören.

"Ist heute eigentlich mal irgendwas Interessantes passiert?" frage ich Schmidt, der - die Füße auf dem Tisch - gerade mit einem offenbar leeren Feuerzeug kämpft. Er hat tatsächlich noch eine Story parat. Ist allerdings von gestern. Da war die Besuchergruppe der Abgeordneten Angela Marquardt aus Greifswald und Berlin zu Besuch in Bonn. Beim Mittagessen im schnieken Bundestagsrestaurant ist dann einem Punk seine Ratte abgehauen. Aber die war so zahm, daß man sie nicht lange suchen mußte. Sie saß einfach unter irgend einem Servicewagen und wartete, daß Herrchen mit dem grünen Mega-Iro sie wieder in den Ärmel aufnahm. Also alles in allem auch nicht so richtig spektakulär. Aber mein Gott, wir sind hier in Bonn. Was willst du hören?!